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Von Holthof nach Korfu – ein Lebensweg

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Von Holthof nach Korfu – ein Lebensweg

Das ehemalige Rittergut Schloss Holthof liegt etwa eine Autostunde entfernt von Stralsund in Mecklenburg-Vorpommern. Dort wird am 18. Februar 1936 die zweitjüngste Tochter von insgesamt sechs Kindern der Familie Steinmüller geboren: Sigrun Steinmüller.


Sie wächst in einer idyllischen Umgebung mit einem weitläufigen Park und einem angrenzenden 400 Hektar großen Feld- und Waldgebiet auf, das von der Familie bewirtschaftet wird. Zur Landwirtschaft gehören 75 Pferde, fast 400 Kühe, die vom Vater geliebten Jagdhunde und unzählige Katzen. Am Wochenende fahren die Kutschen der benachbarten Schlösser vor, die Gäste werden festlich bewirtet und das gesellige Beisammensein dehnt sich meist über Tage aus. Zu Weihnachten werden im blauen Saal des Schlosses 20 hohe Tannenbäume aufgestellt, und alle Arbeiter des Gutes sind zum Weihnachtsmahl eingeladen und bekommen Geschenke.
Mit sechs Jahren beginnt die schulische Ausbildung und die Kinder werden von einem Hauslehrer unterrichtet, da die nächste Schule zu weit entfernt ist. Die größeren Kinder verbringen ihre Gymnasialzeit in Stralsund, wo sie dann bei ihrem Lehrer wohnen und nur noch in den Ferien nach Hause kommen.
Die Zeit ab 1942 ist geprägt von zunehmenden Kriegsunruhen. Ab Ende 1944 kommt es zu amerikanischen und britischen Luftangriffen auf Stralsund und Sassnitz. Die Lebensmittelrationen in den Städten werden knapp und mit dem Vorrücken der russischen Armee reißen die Flüchtlingsströme aus dem Osten nicht mehr ab. Der Winter 1944-45 ist sehr kalt mit viel Schnee und Temperaturen um minus 16 Grad. Ende April 1945 setzt eine Massenauswanderung Richtung Westen ein. „Nur mit dem notwendigsten Gepäck versehen, mit schweren Rucksäcken und Koffern zu Fuß, bepackten Sportkarren und Kinderwagen, hoch- und schwerbeladene Fahrrädern, Handwagen, Schubkarren“ (1), im besten Fall mit vollbesetzten Pferdewagen, beginnen Tausende die Flucht. Auch die Familie Steinmüller muss das Gut verlassen und flüchten. Jedes Kind bekommt einen Beutel mit seinen Papieren umgehängt, die Mutter besteht darauf, einen Eimer Honig mitzunehmen, denn mit einem Löffel Honig könne sie die Kinder im schlimmsten Fall durchbringen. Vom Inventar des Schlosses werden nur einige zusammengerollte Gemälde, und etwas Silbergeschirr, eingewickelt in Bettlaken, gerettet. Alles andere muss zurückgelassen werden und fällt der Plünderung anheim. Eine ältere Schwester entgeht nur knapp der Vergewaltigung durch die Russen, indem sie sich in den Feldern versteckt. Alle anderen Mädchen des Dorfes Holthof werden dazu abkommandiert, die Kühe nach Sibirien zu treiben.

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Der Museumsdirektor von Stralsund Dr. Adler, ein Onkel der Familie, versteckt unter dem Teehaus, das sich auf einer kleinen Insel im Park von Schloss Holthof befindet, den Hiddenseer Goldschatz, einen Schmuck der Wikinger aus dem Jahr 950. Nach dem Krieg wird der Schmuck unbeschadet wieder dem Museum übergeben, wo er heute zu den bekanntesten Ausstellungsstücken zählt.
Sigrun Steinmüller ist zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Angekommen in Hannover beginnt der Vater als Fabrikarbeiter 32 Mark im Monat zu verdienen, und auch die Kinder helfen als Feldarbeiter mit, die Familie durchzubringen. Nur Sigrun kann nicht zur Feldarbeit bewegt werden und setzt Anfang 1950 ihr Fremdsprachenstudium an der Dolmetscherschule in Hannover durch. Sie studiert Englisch und Französisch und erhält vom Centre d'Etudes Francaises jedes Jahr ein Stipendium für einen Aufenthalt in Frankreich. Nach dem Studium arbeitet sie als Sekretärin und Bibliothekarin und unternimmt schließlich eine Kreuzfahrt von Genua nach Rhodos. Durch ihre Kontakte auf dieser Reise wechselt sie 1960 zu einer Export-Firma nach Athen. Griechenland wird die neue Heimat der Heimatvertriebenen.
Was bewegt eine junge Frau, kurze Zeit nach dem Krieg in ein Land zu ziehen, das dreieinhalb Jahre deutscher Besatzung hinter sich hatte, in denen Bergwerke und Wälder raubwirtschaftlich ausgebeutet, „die meisten Eisenbahnbrücken gesprengt, … 80 Prozent des rollenden Materials ruiniert oder entführt, 73 % der Handelstonnage versenkt“ und ungefähr 200.000 Häuser von der deutschen Wehrmacht zerstört wurden? Ein Land, das in der Zeit von 1943 bis September 1944 nach einer deutschen Auflistung 25.435 getötete Griechen zählt, „während der letzten vier Besatzungsmonate 91 pro Tag“. Hinzu kommen 25.728 Kriegsgefangene, deren weiteres Schicksal unklar ist und etwa 60.000 ermordete griechische Juden. (2) – Es gehörte Mut zu einem solchen Schritt von einer jungen Frau in einer Zeit, wo die Wunden des Krieges in Griechenland noch längst nicht verheilt waren.
Im gleichen Jahr, in dem Sigrun von Deutschland nach Griechenland übersiedelt, wird am 30.3.1960 ein Abkommen beider Regierungen „über die Anwerbung und Vermittlung von griechischen Arbeitnehmern“ unterzeichnet, und es kam zu einer Massenauswanderung von Gastarbeitern nach Deutschland. Mit Unterzeichnung des Assoziationsabkommens wird Griechenland in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft eingebunden, und Westdeutschland wird zum wichtigsten Güterlieferant Griechenlands und zweitwichtigstem Importeur griechischer Produkte. (3)
Bereits während ihrer Studentenzeit in Hannover hat Sigrun erste Kontakte zu jungen Griechen, die dort an der Technischen Universität studieren. In diese Zeit fällt auch die Gründung der Deutsch-Griechischen Gesellschaft in Hannover, in der sich Philhellenen um die Aufarbeitung der Kriegsereignisse und Unterstützung der Gastarbeiter bemühen.
Angekommen in Athen erlernt Sigrun schnell die griechische Sprache. Mit ihren Deutsch-, Englisch-, und Französischkenntnissen stehen ihr alle Türen offen und im Dezember 1961 wird Sigrun von der deutschen Botschaft als Fremdsprachenassistentin im Bereich Kultur, Wirtschaft und Presse eingestellt. Von dieser Position aus erlebt sie aus der Nähe, wie sich die deutsch-griechischen Beziehungen über die nächsten Jahrzehnte entwickeln.

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Die Jahre in Athen sind gezeichnet von einem erfüllten Arbeitsleben an der Botschaft und vielen interessanten Begegnungen mit bedeutenden deutschen und griechischen Politikern, wo sie sich als Bindeglied zwischen den Kulturen sieht. Gleichzeitig erlebt sie den langsamen Wiederaufbau in Athen und die Kunst der Griechen in den unzähligen Rembetadika, auch mit wenig Geld ausgelassen zu feiern, wo rauchende Sänger zu den Klängen von Bouzouki, Baglamas, Gitarre, Akkordeon und Geige ihrer Lieder vortragen. Sie liebt die milde Schönheit der griechischen Berge im blau umfließenden Meer, den Duft des Jasmins und der farbenprächtigen Rosen. Vielen streunenden Katzen gibt sie ein Zuhause und hält immer ein kleines Mahl für sie bereit.
Während eines Besuchs bei Freunden auf Korfu fasst sie den Entschluss, nach ihrer Pensionierung dort zu leben. In einem kleinen Häuschen in Gastouri direkt neben der Wasserquelle, die von Kaiserin Sissy erbaut worden ist, und unterhalb des Achilleion-Schlosses, findet sie ein Domizil, wo sie sich wohlfühlt. Im Dorf wird sie freundlich aufgenommen, die Dorfbewohner nennen sie „Frau Lisa“. Ihre Möbel verraten eine Nostalgie an ihre Kindheit im Schloss Holthof, wohin sie nie wieder zurückgekehrt ist: Antike Möbel, ein goldgerahmter Spiegel und Porzellan aus der königlich-preussischen Porzellanmanufaktur. Die einzigen aus Schloss Holthof erhaltenen Familienstücke sind ein Ölgemälde ihrer Großmutter (1875) und ihrer Urgroßmutter sowie einige Silberschalen.

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Gut Holthof wurde 1990 nach der deutschen Vereinigung von einer älteren Schwester Sigruns zurückgekauft. Es war verfallen und musste neu aufgebaut und renoviert werden. Von den umliegenden Ländereien war alles an Privatbesitzer verkauft worden, und zum Schloss gehört heute nur noch ein kleiner Teil des Parks, in dem eine verwitterte Tafel an die Rettung des Goldschatzes aus dem Stralsunder Museum erinnert. Das Schloss ist heute in Wohnungen unterteilt, die vermietet sind.
Sigrun Steinmüller stürzte im Dezember 2016 und erlitt einen Hüftbruch. Sie wollte nicht zu ihrer Familie nach Deutschland, sondern blieb im Allgemeinen Krankenhaus von Korfu und wurde dort operiert. Trotz der Widrigkeiten der Umstände, wozu gehörte, dass die Pflegemaßnahmen völlig unzureichend waren, und sie auf eine private Pflegekraft angewiesen war, die sie Tag und Nacht versorgte, wollte Sigrun ihre Wahlheimat nicht verlassen. Sie starb am 5. Mai 2017 und wurde auf dem Friedhof am Flughafen in Korfu-Stadt begraben. Auf ihrem Grabstein steht „Sigrun-Lisa“.

Von Sabine Stüder, Korfu


Anmerkung:
Ein großer Dank gilt Sigruns Schwester Kristin Federspiel für die freundliche Unterstützung bei allen Recherchen.

Fußnoten:
(1) Peter Kieschnick, Stralsund 1945: ein unvollständiges, nie geschriebenes Tagebuch, Hamburg 2015.
(2) Alle Angaben nach: Hagen Fleischer, Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen für Griechenland, in: Wolfgang Schultheiß, Evangelos Chitiris (Hrsg.), Meilensteine deutsch-griechischer Beziehungen, Athen 2010, S. 221-222.
(3) Dimitris K. Apostolopoulos, Die Deutsch-Griechischen Beziehungen in der Nachkriegszeit, in: Wolfgang Schultheiß, Evangelos Chitiris (Hrsg.), Meilensteine deutsch-griechischer Beziehungen, Athen 2010, S. 279-280.

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