Login RSS

Mória 1979

  • geschrieben von 
Mória 1979

Betrachte ich heute, nicht mehr ganz jung, von meinen Reisen mitgebrachte Fotos, so sind die sich regenden Gefühle meist ambivalent. Das Hochkommen verschütteter Erinnerungen geht einher mit Staunen, oft Freude, aber auch einem Hauch von Trauer über ein unwiederbringlich Vergangenes.

Das vorliegende Foto entstand während meines ersten Aufenthaltes auf Lesbos, Mai 1979. Zu den Orten und Landschaften, die ich damals besuchte, gehörte auch Mória, das mir vor allem wegen des nahgelegenen römischen Aquäduktes, zwischen ölbaumbewachsenen Hügeln sich erhebend, in Erinnerung blieb. Im Ort selber aber sind es vor allem die Umstände, unter denen dieses Foto entstand.

Während ich auf den Bus wartete, der mich nach Mytilini zurückbringen sollte, endete in der Volksschule der Unterricht. Die Jungen stürmten heraus, und ich fragte den lebhaftesten unter ihnen, ob ich ein Foto von ihm machen dürfte. Sofort warf er die Schultasche weit von sich und brachte sich selbst in vorteilhafte Position. Andere folgten ihm, zwitscherten chaotisch auf mich ein, merkten erst allmählich, daß des Touristas Kenntnisse ihrer Sprache noch recht bescheiden waren. Ich schoß also drei Fotos, die Rasselbande war zufrieden, und Vasílaos, ihr Anführer, vertaute mir sogar seine Adresse an.

Vor kurzem kam das bisher unauffällige Mória nicht aus den Schlagzeilen und Fernsehreportagen heraus. Nicht daß ein römischer Aquädukt in idyllischer Umgebung unerwartet Interesse geweckt hätte, vielmehr waren es unerträglich überfüllte Flüchtlingslager. Flüchtlinge und bedrängte Einheimische fühlten sich überfordert und allein gelassen. Wie mag es meinen quirlig zwitschernden sechs Jungen von damals unter diesen Umständen heute ergehen?

Text und Foto: Dieter Spatschek

Nach oben

 Warenkorb