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Zikaden erheben ihren Gesang in der Stille

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Zikaden erheben ihren Gesang in der Stille

Auf der Insel Ios soll sich das Grab des Homers befinden. Dass dem tatsächlich so ist, davon ist Reiseleiter Chris Varonos fest überzeugt.

Ios im Ägäischen Meer lockt die Jungen und „baut“ auf Homer – Teil 2

Michalis Petropoulos sieht aus wie ein jung gebliebener Rockstar. Seit nun einigen Jahren ist er der (parteilose) Bürgermeister auf der griechischen Kykladeninsel Ios. Jenem kleinen Eiland in der Ägäis also, das besonderen Wert auf sein jugendliches Image legt. „We offer only the feeling“, sagt Petropoulos, lächelt und macht dann eine entschuldigende Geste. Petropoulos ist über 60 Jahre alt – man nimmt es ihm nicht so richtig ab. Passend zur Flippie- und Disko-Insel für Jugendliche trägt der Bürgermeister nicht nur schulterlanges, weißes Haar, Turnschuhe und Jeans, sondern auch ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Rock Daddy“. Die Touristen, die nach Ios kommen, seien in der Regel im Schnitt zwischen 20 und 25 Jahren, erklärt Petropoulos. Das Phänomen: Die Klientel habe sich seit Jahrzehnten nicht verändert. Das Image hält allen Stürmen der Zeit stand.

Vogelperspektive auf die Chora von Ios Fotos di

Vogelperspektive auf die Chora von Ios (Fotos di)

Chris Varonos weiß mehr. „Die Legende sagt“, erklärt uns der 70-jährige Reiseführer an Ort und Stelle, „dass Homers Mutter auf Ios geboren wurde“. Wie auf Kommando erheben Zikaden ihren Gesang in der Stille, sägen ohrenbetäubend und unerkannt. Wildkräuter duften um die Wette. Flirrende Hitze liegt über der Stätte. In der Ferne grüßen die benachbarten Inseln Iraklia und Naxos. Eine herrliche Stelle, ein wunderbarer Ausblick. „Und deshalb", unterbricht der Reiseleiter unsere Andacht, „liegt Homer hier begraben“.
Ehrfürchtig verweilen unsere Blicke dann auf einem hüfthoch gemauerten Geviert, zwei mal zwei Meter vielleicht, für große Gruppen also nicht geeignet. Innen erblicken wir eine Ausbuchtung wie ein Kamin. Zwei weiße Marmorquader stehen hochkant, ein Marmorquader ist quer darüber gelegt.
„Well“, bedauert unser Reiseleiter, „es sind heute nur ein paar Steine hier zu sehen“. Aber in der Zukunft – er wird nun feierlich –, in der Zukunft werde man darangehen, eine richtige Grabstätte für Homer zu errichten, das sei man dem größten Epiker aller Zeiten schließlich schuldig.
Gedruckte Reiseführer gehen nüchtern mit dem Mythos um. Polyglott etwa hat in sein schmales Bändchen über die Kykladen die Bemerkung gesetzt: „Ios nahm schon immer für sich in Anspruch, das Grab Homers zu besitzen. 1771 glaubte denn auch der holländische Offizier Paasch van Krienen, dieses Grab bei Plakotós im Norden entdeckt zu haben. Die von ihm geöffneten Gräber stammen jedoch aus jüngerer Zeit.“
Mysteriös klingt das alles, legendenumwoben und voller Rätsel. Heerscharen von Wissenschaftlern tüfteln seit Jahrhunderten an einem Werk herum, das schmal ist wie selten eines. Mittlerweile neigt man sogar dazu, nur die „Ilias“, diese rund 16.000 Verse, Homer zuzuschreiben, nicht aber die „Odyssee“, den Bericht über die Irrfahrten des Odysseus.

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Eine alte Tradition genial zusammengestellt

Thomas A. Szlezák ist Professor für Griechische Philologie. Er hat ein Standardwerk zum Thema veröffentlicht. Szlezák erzählt von Legenden und Sagen und Überlieferungen, er erwähnt Aristoteles, von dem allerlei Fragmente gesichert seien. In einem ist auch von Ios die Rede. Homer sei auf der Insel von einem Fischerjungen auf die Probe gestellt worden, er habe aber das Rätsel nicht lösen können. Darüber sei der Poet vor Gram gestorben, womöglich habe er sich sogar umgebracht. „Na-ja“, zieht der Gräzist Szlezák die beiden Silben ironisch in die Länge, „na-ja!“. Und fügt hinzu: „Die Leute von Ios hatten wohl sonst nicht viel vorzuweisen und ließen dann den Reisenden, der sicher selten genug vorbeikam, wissen, es gebe dort das Grab des Homer."
Sodann gibt Szlezák zu bedenken, dass ja nicht mal gewiss sei, ob Homer als Person überhaupt existiert habe. Ob er als Name nicht schon ein Mythos sei, und die Verse eben vom Erzählen weiter getragen wurden, wie es einst ja üblich war. „Seine Person ist leider nicht fassbar“, bedauert Szlezák, „wir wissen über Homer wirklich nichts“.
Herbert Bannert ist ein Altphilologe aus Wien. Bei Rowohlt liegt sein Standardwerk „Homer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“ vor. Hat Homer denn nun existiert? „Wir wissen, dass es einen Mann Homer gegeben hat, im 8. Jahrhundert vor Christus, aber er hat die Gedichte nicht ‚erfunden‘, sondern eine alte Tradition genial zusammengestellt“, erklärt der Wissenschaftler.
In allen Homer-Biographien der Antike sei immer der Sterbeort Ios angegeben. Freilich stammten diese Schriften aus der Zeit nach Christus ...
„Die Historizität dieses ‚Grabes‘ auf Ios ist noch umstrittener als diejenige des Dichters selbst“, sagt Martin Maischberger von der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Für „das vermeintliche Grab auf Ios“ könnten nichts „außer vage Konjektionen ins Feld geführt werden“.

Der Mylopotas Strand

Bürgermeister: „We offer only the feeling“

Fassen wir zusammen: Ob Homer gelebt hat oder eine Figur der Sagen ist, bleibt umstritten. Ob Homer folglich gestorben sein kann und womöglich sogar auf Ios, können wir deshalb nicht felsenfest behaupten. Die sogenannte Grabstätte im Norden von Ios ist so ungewiss wie grüne Männchen auf dem Mars. Unser freundlicher Reiseführer auf Ios aber wusste in der Mittagsglut vor Ort brandheiß zu berichten, dass ein „Ministry of Antiques“ Geld bereitgestellt habe, um demnächst eine repräsentative Grabstätte für Homer zu errichten. Die Straße und der geräumige Parkplatz bieten sich für jede Tempelanlage förmlich an.
Zuletzt bekommen wir noch neueste Informationen vom Bürgermeisteramt auf Ios. Michalis Petropoulos' schriftliche Antwort auf unsere Fragen ist erfreulich aufschlussreich. „Die Markierung des Grabes in Plakotos erfolgte 1960“, schreibt der Bürgermeister. „Der Parkplatz wurde im Jahre 2000 angelegt. Es existieren in der Gegend insgesamt drei Gräber, und natürlich ist es sehr schwer zu sagen, ob eines das Grab von Homer ist. Derzeit planen wir, ein Monument für Homer in der Nähe zu errichten."
Ein Ende der Ausbauten ist nicht in Sicht. So wird eine Adresse für den Tourismus nach und nach erweitert, allen Zweifeln zum Trotz.
Man sollte das Rätsel um Homers Grab aber nicht so ouzoernst nehmen. Ein Wissenschaftler empfahl des Dichters Werk: „Wie heißt es bei Homer? Dort ist vom ‚unauslöschlichen Gelächter der seligen Götter‘ die Rede."
Und wie begann der Bürgermeister von Ios, Michalis Petropoulos, uns bei unserem Besuch einzustimmen? „We offer only the feeling“.

Griechenland Juni 2012 018

Text von Stefan Berkholz

 

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