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Lassithi: Reise in die fruchtbarste Ebene auf Kreta

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Die Lassithi-Hochebene auf Kreta Die Lassithi-Hochebene auf Kreta

Kreta ist eine Insel der Individualisten und Träumer. Jeden Tag begegnen wir interessanten Menschen, erleben Überraschendes und hören, was kaum in Büchern steht.

Heute fahren wir von Agios Nikolaos nach Heraklion. Aber nicht auf der Schnellstraße an der Küste entlang, sondern durch die Berge und über die Lassithi-Hochebene, das fruchtbarste Hochtal der Insel. Kurvenreich windet sich die recht schmale Straße hinter Neapoli die Hänge empor. In Zenia halten wir das erste Mal. Die Bewohner des kleinen Bergdorfs sind zumeist ehemalige Bauern und Hirten, deren Frauen und Witwen. Die Jugend hat das Dorf verlassen. Nur ein jüngerer Mann ist geblieben: Manolis Farsaris.

Dörfliches Imperium

Zu beiden Seiten der Straße hat er in jahrelanger winterlicher Handarbeit sein Imperium namens Moutsounas geschaffen. Jahr für Jahr wird hinzu gebaut, sein Unterhaltungs- und Einkaufsangebot ausgeweitet. Talseitig hat er einen Feldstecher auf einen ausgedienten, aber immer noch höhenverstellbaren Sonnenschirmhalter montiert. Eine Armlänge weiter hängen Zwillen im Baum. Jeder darf gern damit schießen – aber bitte nicht auf Vögel, sondern auf Blätter und Steine. Ein mehrsprachiges, handschriftliches Schild verkündet, dass die Tische und Stühle auf der Terrasse auch gern von sparsamen Gästen für ein mitgebrachtes Picknick benutzt werden dürfen. Vor allem All-inclusive-Touristen mit Lunch-Paketen machen von dieser Möglichkeit gern Gebrauch. Auf der Straße hat Manolis ein Schachbrett aufgemalt, mit braunen und grünen Bierflaschen kann da Dame gespielt werden. Die Kronenkorken der Flaschen dienen als Figuren für ein anderes aufgemaltes Spiel gleich daneben. Neben einem alten Ziehbrunnen erzählt eine Erklärungstafel die Geschichte des Großvaters. Der war ein Leben lang Hirte, widmete sich im Alter dann dem Schnitzen von Löffeln und wurde über 100 Jahre alt. Das Trikyklo, das motorgetriebene Dreirad, in dem er ab 1953 seine Familie zu gelegentlichen Ausflügen in die Stadt mitnahm, hat Manolis restauriert und an der Straße ausgestellt. Es war damals das erste Motorfahrzeug im Dorf.

Esel, Liebespaare und Herzen

Manolis drängt sich seinen Gästen nicht auf. Er weiß, dass ohnehin jeder, der hier hält, einen Blick in sein Ladenkonglomerat wirft, das von Jahr zu Jahr um einen Kubus erweitert wird. Von vietnamesischen Jeans bis zu griechischen Gipsgötterstatuen, von kretischer Musik bis zu Billigikonen bietet er fast alles, was in diesem fast menschenleeren Dorf nun wirklich niemand braucht. Während seine Frau unten in Agios Nikolaos Souvenirs verkauft oder im elterlichen Hotel mithilft, kredenzt er seinen Gästen hier in den Bergen Rakomelo, mit Honig versetzten Tresterschnaps, heiß oder kalt. Manolis kocht Mokka und Bergtee, erhitzt Moussaka und Pizza in der Mikrowelle, serviert Eis. Was die Kunden derweil in den verschiedenen Abteilungen seines Supermarkts treiben, sieht er nicht. Überwachungskameras hält er für überflüssig, er vertraut auf die Ehrlichkeit der Touristen.
Ganz besonders stolz ist Manolis auf zwei Räume seines Konglomerats. Einer beherbergt ein winziges Heimatmuseum, der andere eine Schnitzwerkstatt. Nach dem Tod des Löffel schnitzenden Großvaters hatte Manolis zeitweise überlegt, Nachschub aus China zu importieren. Zeus sei Dank dachte er aber um. Da ihm das Talent des Opas fehlt, stellt er allerdings keine Löffel mehr her, sondern widmet sich einer Art Laubsägearbeit aus Olivenholz. Heraus kommen Esel, Liebespaare und Herzen.

Zu Gast bei Onassis

Ein Dorf weiter lässt eine Tavernenterrasse jeden Autofahrer unweigerlich auf die Bremse treten. Sie gleicht einem Paradies für Tomatenliebhaber. Hunderte dieser Paradiesäpfel hängen und liegen zum Trocknen herum. Fast ebenso zahlreich sind die Kürbisse in den bizarrsten Formen. Sogar Opuntienteile mit Früchten daran werden der Sonne ausgesetzt. All das fassen bis in den August hinein blühende Hortensien ein. Spielzeug für Gästekinder liegt in Massen herum, denn die Wirtsleute haben fünf Enkel. Benannt ist die Taverne nach der Wirtin und ihrem Mann: Mariana-Onassis. Onassis ist natürlich nur sein Spitzname, denn er fuhr 27 Jahre lang auf Frachtern und Tankern rund um die Welt. Heute sieht er aus wie eine Mischung aus Priester und Pirat. Er plaudert mit allen Gästen, hilft auch im Service mit. Aber für Küche und Kasse ist die Gemahlin zuständig. Die ist übrigens eine Schwester von Manolis aus Zenia. Doch darüber reden die beiden niemals – Konkurrenzneid ist halt auch eine kretische Eigenschaft.

Die Taverne Mariana Onassis ein Paradies für Tomatenliebhaber
Die Taverne „Mariana-Onassis“ – ein Paradies für Tomatenliebhaber

Gespräche im Schnee

Nach Erklimmen der Passhöhe fahren wir auf die fast kreisrunde Lassithi-Hochebene hinab. Deren Hauptattraktion für Touristenmassen, die Geburtshöhle des Zeus bei Psychro, lassen wir diesmal links liegen. Wir halten stattdessen im kleinen Weiler Agios Konstantinos und lassen uns da die alten, jetzt zu modern gestalteten, sehr stimmungsvollen Ferienwohnungen Vilaaeti zeigen. Da erklärt uns die Vermieterin eine Besonderheit vieler alter Häuser auf der Hochebene. Sie sind durch enge, rohrartige Öffnungen miteinander verbunden. Da hier im Winter früher viel Schnee fiel, konnte man sich so mit den Nachbarn unterhalten, ohne erst einen Weg zu ihnen freischaufeln zu müssen.

Schweinebraten auf der Passhöhe

Weiter geht's. Wir wollen die Hochebene über die Passhöhe Ambelos Afin verlassen. Da oben stehen direkt auf dem windumtosten Bergkamm etwa ein Dutzend alter Getreidemühlen, von denen aber nur drei einigermaßen restauriert wurden. Direkt darunter hat eine lassithische Familie schon vor Jahrzehnten eine Taverne gegründet, die auch mit EU-Hilfen inzwischen zu einem Spitzenrestaurant herangereift ist. Vor dem Eingang schwelt an jedem Morgen eine Glut im Holzbackofen. Darin garen Schweinebraten, Kartoffeln von der Hochebene und manch anderes wie Moussaka. Um 12.30 Uhr wird die Ofentür geöffnet, liegt ein grandioser Duft in der Luft. Wir kommen leider erst um 16.30 Uhr an. Die Wirtin, die mich ein wenig kennt, gibt mir einen Kafedaki auf der großen Terrasse aus, dann schließt sie das Restaurant ab. Ich soll sitzen bleiben, solange ich mag – sie muss ganz dringend mit ihrem Mann nach Heraklio.

Menschheitsgeschichte- eigenwillig interpretiert

Unsere vorletzte Station an diesem Tag ist das Museum of Mankind, einsam am steilen Berghang oberhalb von Kera gelegen. Da hat der ehemalige Zöllner Giorgos Petrakis seinen Lebenstraum verwirklicht und sein Freilichtmuseum der Menschheitsgeschichte geschaffen. Alles hier hat er selbst erdacht und finanziert, mit eigenen Händen gestaltet. Der Zugang erfolgt durch einen labyrinthartigen Gang. Am Anfang begrüßen ein Neandertaler und der Kosmonaut Jurij Gagarin die Besucher. Am Ende ist ein 180 Millionen Jahre alter, versteinerter Baumstamm von der Insel Lesbos zu sehen. Dann folgen nachgebaute Höhlen aus den prähistorischen Epochen. Dann kommen die Griechen: Sie werden durch Gipsstatuen der zwölf olympischen Götter repräsentiert. Wenig später steht man vor einer Kapelle. „Und dann kam Jesus Christus“, verkündet eine Tafel in sechs Sprachen. Das hat die Menschheit scheinbar erst einmal nicht vorangebracht, denn aus den nachfolgenden 1950 Jahren hat Giorgos nichts zu vermelden. Erst als Gagarin 1961 als erster Mensch ins Weltall flog, erreichte die Menschheit ihre dritte Stufe, entwickelte sich vom Homo erectus über den Homo sapiens zum Homo cosmicus. So ist der dritte Teil des Museums denn auch ganz dieser Phase gewidmet: Vor allem in Gestalt von Denkmälern für alle bei ihrer Mission verunglückten Astro- und Kosmonauten und sogar für die russische Hündin Lara, die 1957 auf eine Mission ohne Rückkehr ins All geschossen wurde. Giorgos ist im Frühjahr 2018 verstorben. Jetzt führen seine erwachsenen Kinder Manolis und Eleftheria das Museum fort. Wie lange noch, steht in den Sternen, denn den Faible des Vaters haben sie nicht geerbt.

Das Museum of Mankind an einem steilen Berghang oberhalb von Kera
Das Museum of Mankind an einem steilen Berghang oberhalb von Kera

Vorbild Maria

Am unteren Dorfende von Kera steht ein altes Marienkloster. Auch das hat seinen bizarren Reiz und lässt die Gottesmutter fast wie eine Kreterin erscheinen, die genau weiß, was sie will. Die Ikone, in der sie für die Gläubigen präsent ist, wurde zweimal von bösen Türken nach Istanbul verschleppt. Doch beide Male war sie auf wundersame Weise auf ihren angestammten Platz in der Klosterkirche zurückgekehrt. Nach dem dritten Raub ketteten die Diebe die Ikone in Istanbul an einen antiken Säulenstumpf an. Maria kehrte trotzdem nach Kreta zurück, brachte Säule und Kette gleich mit. Die Säule steht heute auf dem Klosterhof, die Kette ist bis heute an der Ikone befestigt.

Die Kirche des alten Marienklosters bei Kera Fotos GZkb
Die Kirche des alten Marienklosters bei Kera

 

Text: Klaus Bötig; Fotos: Christiane Bötig

Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 658 am 2. Januar 2019.

 

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