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In die Töpfe zu schauen, ist hier noch erlaubt …

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Foto (© Griechenland Zeitung / cb): Massenausflug nach Gramvousa Foto (© Griechenland Zeitung / cb): Massenausflug nach Gramvousa

Sifis und Manolis Papadakis sind Hoteliers aus Leidenschaft. Und sie lieben ihre Heimat, das westkretische Landstädtchen Kissamos und seine bisher touristisch nur wenig erschlossene Umgebung.

Auf den ersten Blick und zur falschen Zeit mag man kaum glauben, dass Kissamos noch eine fast touristenfreie Zone ist: Wenn man vormittags oder spätnachmittags aus dem Hotel auf die Hauptstraße schaut. Dann wälzt sich eine Karawane von Mietwagen und Reisebussen durch den Ort Alle kennen nur ein Ziel: den traumhaft schönen Balos Beach an der äußersten Westküste. Die Busse fahren alle zum Hafen von Kissamos, wo gleich mehrere große Ausflugsdampfer ein und der gleichen Reederei an den Kais liegen, um die Massen an den Balos Beach zu bringen. Unterwegs dürfen die dann auch noch für ein Stündchen auf der venezianischen Festungsinsel Gramvousa von Bord.
Die Autos steuern kaum den Hafen an, sondern wagen sich auf 16 Kilometer langer, mautpflichtiger Piste bis zum Großparkplatz über dem paradiesischen Strand. Von da aus steigen sie in 30 Minuten zu Fuß hinab oder nehmen für die Tour einen Esel.

Angenehmes Stadthotel Kissamos in Kissamos Kastelli
Angenehmes Stadthotel Kissamos in Kissamos Kastelli

In Kissamos bleiben

Für alle Tripadvisor-Gläubigen ist Kissamos nur ein Städtchen am Wegesrand, das von der Hauptstraße aus gesehen nicht unbedingt zum Anhalten lockt. Wir haben an eben jener Hauptstraße Quartier bezogen: Bei Manolis und Sifis in ihrem „Hotel Kissamos“. Gleich der erste Eindruck war gut: Als ich mich nach kurzer Inspektion des Zimmers an den Pool auf der Rückseite des Hotels setze und einen Campari bestelle, pflückt Sifis im Garten eine Zitrone vom Baum und schneidet aus ihr eine Scheibe für meinen Drink heraus. Er lässt sich auch gleich auf ein Gespräch ein. Die beiden Brüder haben das Hotel von ihren Eltern übernommen, gründlich renoviert und sich vor allem Gedanken um seine Zukunft gemacht. Sie setzen jetzt ganzjährig voll auf Gäste, die die Region erkunden wollen. In der Lobby liegen vertrauensvoll so viele auf die Region bezogene Bücher aus wie sonst wohl nirgends auf der Insel, dazu Prospekte und Visitenkarten von lokalen Anbietern aller Art.
Gute Tipps geben sie auch: Das Metochi Farmhouse zu besuchen zum Beispiel. Da führt Bäuerin Eleni ihre Gäste zunächst über ihren Besitz, bevor es zur Wein- und Rakiprobe in den hauseigenen Weinkeller geht. Auch das Rotonta Café empfehlen sie. Da kann man sein Gemüse selbst ernten, es in die Küche bringen und zubereiten lassen. Sie wissen auch, wie man es vermeiden kann, mit Tausenden anderer Touristen per Boot zur Festungsinsel Gramvousa und zur südseehaften Lagune von Balos zu fahren: Mit einem kleinen, offenen Boot von Falasarna an der Westküste aus, das maximal nur 30 Passagiere fasst. Auf Wunsch rufen sie den Bootsmann Giorgos an und reservieren Plätze für ihre Gäste.

Ausflug nach Polirrinia

Wir setzen uns lieber ins Auto und erkunden das Hinterland. Eine erste Stichfahrt führt uns nach Polirrinia, einen der vielen winzigen Weiler auf Kreta, die dem Untergang nahe sind. Ständige Bewohner sind nur ein paar Alte und ein ehemaliger Polizist, der bei einem Einsatz schwer verwundet wurde und nun geistig behindert wieder bei seiner Mutter lebt. Im Sommer kommen ein paar Griechen und Ausländer hinzu, die hier ihre Ferienhäuser haben – und im Falle Polirrinias auch ein paar Touristen, denn der Ort besitzt viel alte venezianische Bausubstanz und eine antike Akropolis. Zudem sind wilde Schluchten in der Nähe, die man durchwandern kann. Etwas ganz Besonderes ist das alte Dorf-Kafenio, das ein englisches Ehepaar an der Hauptgasse betreibt. Es will mit diesem Café kein Geld verdienen, sondern zurückgeben: Der gesamte Gewinn dient der Unterstützung im Dorf wohnender alter Menschen. Festpreise gibt es hier nicht, der Gast spendet, was er zu geben gedenkt. Nebenbei dient das kleine Kaffeehaus mit grüner Terrasse und Blick in eine der Schluchten auch der Information. Die Inhaber erklären, was man im Ort Historisches sehen kann und erläutern auch die Wandermöglichkeiten.
Vorbei an einem alten venezianischen Aquädukt aus der Zeit Kaiser Hadrians und dem ehemaligen venezianischen Dorfbrunnen steigen wir über gepflasterte Gassen zum oberen Dorfrand hinauf. Plötzlich hören wir die zarten Töne von vielerlei Windspielen und sind kurz darauf am Ladenatelier eines ehemaligen Möbeltischlers, der sich vor ein paar Jahren in sein Heimatdorf zurückgezogen hat und jetzt nur noch schöne Kleinigkeiten aus Holz baut und schnitzt. Um einen selbst gefertigten Holztisch hat Giorgos Tsichlakis ein paar Hocker und Bänke drapiert, an denen er seine Besucher mit selbst gebranntem Raki bewirtet. Das uralte Destilliergerät steht gleich nebenan.

Venezianisches Aquaedukt in Polirrinia
Venezianisches Aquädukt in Polirrinia

An der Stelle eines Tempels

Das letzte Haus am Dorfrand ist eine kleine Taverne mit dem stolzen Namen „Acropolis“. Eine Bauernfamilie kocht, wie sie's gewohnt ist. Hier steht auch die traditionelle kretische „staka“ auf der Karte, ein Brei aus auf kleiner Flamme gekochter Ziegenmilch mit Weizenmehl und Stärke. So gestärkt gehen wir fünf Minuten weiter an den Überresten antiker Zisternen, aus dem Fels geschnittener Behausungen und zwei alten Dreschplätzen vorbei zur wuchtigen Kirche Agii Pateres auf dem Dorffriedhof. Mit ihr haben die alten Polirrinier den antiken Göttern gezeigt, wer wirklich der Herr ist: Die Kirche wurde an der Stelle eines Tempels aus dessen Steinblöcken errichtet. 31 von ihnen lassen noch antike Inschriften erkennen. Ein schmaler Ziegenpfad führt von hier auf die Akropolis der alten Stadt hinauf, wo man zwischen 2.000 Jahre alten Mauern gut picknicken könnte. Der Blick schweift von hier oben weit über die stark zerklüftete Landschaft, kaum ein Haus ist weit und breit zu sehen. Richtung Norden ist Kissamos-Kastelli zu erahnen

An der Stelle eines antiken Tempels Die Kirche von Polirrinia
An der Stelle eines antiken Tempels: die Kirche von Polirrinia

Verschlafene Dörfer, uralte Kirchen

Am nächsten Tag widmen wir uns noch einmal dem Hinterland. Das alte venezianische Dorf Rokka begeistert uns durch seine Lage an einer mächtigen Felsknolle. Ein paar antike Überreste sind am Hang darunter verstreut. Ein Wegweiser macht auf den Europäischen Fernwanderweg E 4 aufmerksam, der von hier hinunter in die Rokka-Schlucht führt – ein selten begangenes Teilstück für Wanderer mit Erfahrung und guter Kondition. In den Wänden der Schlucht nisten Geier, die auch weiter oben in der sehr leicht zu begehenden Schlucht von Deliana häufig zu beobachten sind. Im Dorf Deliana sitzen wir später lange in der Gartentaverne To Farangi, wo Georgios und Sofia auftischen, was die Region zu bieten vermag. In die Töpfe zu schauen, ist hier noch erlaubt, das Öl wird den Gästen noch in Flaschen auf die Tische gestellt.
Auf dem Rückweg nach Kissamos erwarten uns zwei ganz besondere Kirchen. Die Rotonda des Erzengels Michaels ist in ganz Griechenland einzigartig. Über dem von Bogenöffnungen durchbrochenen Zentralraum der dreischiffigen, fast quadratischen Kirche spannt sich eine Kuppel, die innen bienenkorbförmig, außen getreppt ist. Ein geometrisches Fußbodenmosaik verweist auf ein Erbauungsdatum im 6./7. Jahrhundert, die übrigen Wandmalereien werden ins 12. und 13. Jahrhundert datiert. Auch ein ganz seltenes Motiv ist darunter: Maria wird von Anna gestillt.
Nur einen Kilometer liegt die kleine Kapelle Agios Stefanos idyllisch in dschungelhaftem Grün. Die Kapelle aus dem 11. Jahrhundert ist so windschief, dass sie einzustürzen scheint. Die Tür ist stets unverschlossen, innen ist sie mit Wandmalereien aus dem späten 14. Jahrhundert geschmückt.

Tolle Knolle Rokka
Tolle Knolle Rokka

Ausklang in Kissamos

Sifis und Manolis im Hotel haben inzwischen mitbekommen, dass wir uns für Kunst und Geschichte interessieren. Sie drücken uns einen Stadtplan in die Hand, auf dem alle auch noch so kleinen archäologischen Stätten im Städtchen selbst eingezeichnet sind. Wir machen uns auf den Weg, sehen die Überreste eines römischen und eines frühchristlichen Friedhofs, das Ziegelmauerwerk einer römischen Therme und die Grundmauer einer großen römischen Stadtvilla. Sogar an der vielbefahrenen Straße zum Hafen entdecken wir ein in Griechenland noch nie gesehenes Kleinod: In einer Felsgrotte mit kleiner Kapelle stehen aus Sperrholz ausgesägte und im Stil von Ikonen bemalte Figurengruppen, die biblische Szenen illustrieren: Anbetung durch die hll. drei Könige, Kreuzigung und Höllenfahrt Christi. Die Touristenbusse zum Hafen fahren daran natürlich vorbei. Das Paradies sucht man heute ja an Stränden und nicht in Gotteshäusern.

 

 

Text und Fotos: Klaus Bötig

Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 670 am 27. März 2019.

 

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