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Drei Finger sind noch keine Hand

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Strand vor den Mauern des antiken Stagira (Fotos: GZcb) Strand vor den Mauern des antiken Stagira (Fotos: GZcb)

Die drei Finger der nordgriechischen Halbinsel Chalkidiki sind für Ausländer die bedeutendste Urlaubsregion des gesamten griechischen Festlands. Zweieinhalb Finger sind zum Baden da, ein halber zum Beten – die Mönchsrepublik Athos. Ins gebirgige, sehr waldreiche Hinterland dieser drei Finger, also auf die Handfläche der Chalkidiki, kommen aber kaum Fremde – und auch der abseits aller Finger gelegene Badeort Olympiada ist da noch ein Geheimtipp.

Wie es sich in einem griechischen Provinzstädtchen abseits des Meeres und fast ganz ohne Tourismus lebt, zeigt die äußerst beschauliche Hauptstadt der Chalkidiki, Polygyros. Sie liegt in 400 bis 600 Metern Höhe am Südwesthang des dicht bewaldeten Cholomondas-Gebirges. Die seit 1869 bestehende Verwaltungsfunktion von Polygyros unterstreichen ein paar große, moderne Gebäude wie das Gericht, die Nomarchia als ehemaliger Sitz des Regierungspräsidenten, verschiedene Schulen und vor allem ein modernes Krankenhaus am oberen Stadtrand. Im Zentrum sind nur noch wenige alte Häuser gut bewohnbar; die meisten älteren Gebäude werden abgerissen und durch neue, nicht sonderlich schöne ersetzt. Ohnehin musste Polygyros im
19. Jahrhundert völlig neu erbaut werden, nachdem der alte Ort 1821 von den Truppen des Osmanischen Reiches in Brand gesteckt worden war. Die einzige Sehenswürdigkeit ist eigentlich das Archäologische Museum, doch das ist seit Jahren geschlossen. Angeblich fehlt das Geld für genügend Personal. Die Finanzmittel reichen nur für einen Wachdienst, der die fürs Volk unsichtbaren Schätze hütet. Darunter sind kleine Tonfiguren, die Aufschluss über das Leben in der Antike geben können: Da rollt jemand Teig oder zerstößt Korn in einem Mörser, ein Mann steht vor einem Backofen, ein anderer sitzt in einer Badewanne.

Schmuckstück Arnea

Viel schöner als Polygyros ist Arnea auf der Rückseite des Cholomondas-Gebirges. Große Teile des Ortes wirken wie ein fein herausgeputztes Museumsdorf. Viel alte Bausubstanz aus dem 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert blieb hier erhalten und wurde aufwändig restauriert. Vor nahezu 120 Häusern erläutern Fototafeln die Geschichte des jeweiligen Gebäudes und erzählen oft auch ein wenig über ihre Bewohner. Die gewundenen Gassen sind im alten Stil gepflastert, an der oberen Platia fließt noch immer Quellwasser aus einer Platane. Ganz in ihrer Nähe zeigen zwei kleine Museen in alten Herrenhäusern, wie und wovon man hier früher lebte, und erzählen die Geschichte des Städtchens.
Der zunächst Liarigovi genannte Ort entstand im 16. Jahrhundert durch den Zusammenschluss der Bewohner mehrerer umliegender Weiler. Er entwickelte sich schnell zum Zentrum der Mandemochoria, zwölf Gemeinden, deren Bewohner vor allem in den Bergwerken und Tagebaugruben der weiteren Umgebung arbeiteten. Sie brachten dem Osmanischen Reich so viel Nutzen, dass der Sultan ihnen als weitere Wirtschaftsförderung sogar eine Reihe von Privilegien einräumte. Dafür waren die Dörfer verpflichtet, einen Teil des gewonnenen Silbers als Tribut an die Hohe Pforte zu entrichten und die übrigen abgebauten Erze dem Osmanischen Reich zu einem von diesem festgelegten Preis zu verkaufen. Alle Privilegien nutzten den Dörfern allerdings nichts, als sich die Bewohner der Chalkidiki1821 dem griechischen Freiheitskampf anschlossen und gegen die Türken rebellierten. Ihre Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht.

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Typische Architektur im Zentrum Arneas

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Feinschmeckerküche in Agia Paraskevi bei Arnea

Neue Blütezeit

Ab 1850 begann dann für das wieder besiedelte Arnea eine neue Blütezeit. Seine Bewohner waren als Zimmerleute weithin gefragt, betätigten sich als Schuhmacher, Pferdehändler und Imker. In nahezu jedem Haus stand ein Webstuhl, an dem die Flokáti genannten Schafwollteppiche, Kelims und Webdecken entstanden. Die Familien waren zu einer Webereigenossenschaft zusammengeschlossen, die um 1960 noch etwa 350 Mitglieder zählte. Außerdem arbeiteten mehrere Dutzend Frauen für lokale Händler, die ihnen die Kosten für die Rohmaterialien vorstreckten. Ein schneller Absatz der Ware war wichtiger als hoher Gewinn, da Bargeld für den Einkauf von Wolle und Farben knapp war. Noch bis 1967 kamen Händler aus ganz Griechenland nach Arnea, um sich hier mit diesen Waren einzudecken. Erst in der Zeit der Militärjunta zerbrachen die alten Strukturen, denn unter einer das Großunternehmertum fördernden Wirtschaftspolitik war das traditionelle Kleinhandwerk nicht mehr konkurrenzfähig. Heute kann man in Arnea keine Teppiche und Stickereien mehr kaufen – aber in den Museen bestaunen. Da sieht man völlig überraschend auch Stickereien mit Motiven, wie sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Mitteleuropa dank Stickmustervorlagen weit verbreitet waren. Da schmiegt sich zum Beispiel eine hübsche junge Frau in langem Gewand auf einer Parkbank an ihren Partner, der ihr wie Traummänner heute aus einem Buch vorliest.

Waldkartoffeln und Trüffel

Im östlichen Teil Arneas steht an der unteren Platia der Stolz des Städtchens, ein aus alternierenden Lagen von Naturstein und Ziegeln errichteter Uhrturm aus dem Jahr 1889. Solche Uhrtürme waren im damals ja noch von den Osmanen besetzten Nordgriechenland wie ein Zeigefinger, der untermauern sollte, dass Griechenland eigentlich zum christlichen Europa gehört. Die Kirche selbst ist ein Bau aus dem 20. Jahrhundert. Wenn sie geöffnet ist, lohnt ein Blick hinein: Unter Panzerglasplatten sind dann die Grundmauern des Vorgängerbaus aus dem 10. Jahrhundert sichtbar.
Hier an der Kirche beginnt die kleine Straße hinunter zum ganz nahen Eichenwäldchen Agia Paraskevi. Das kleine Kirchlein darin ist am 25./26. Juli Ziel vieler Pilger, die hier dann auch campieren, grillen und feiern – den Rest des Jahres über eignet es sich eigentlich bestens als Picknickplatz. Hier zu picknicken, wäre allerdings schade: Das ebenfalls im Wäldchen gelegene Restaurant „Bakatsianos“ ist nämlich das wohl beste des gesamten chalkidischen Binnenlandes.
Dimitrios Bakatsianos stammt von der Chalkidiki, wurde aber in Brüssel zum Koch ausgebildet. Viele Jahre arbeitete er in belgischen Spitzenrestaurants, bis er sich mutig entschloss, in der Waldeinsamkeit bei Arnea Spitzenküche zu ganz erschwinglichen Preisen zu bieten. Sein guter Ruf reicht jetzt weit über Thessaloniki hinaus, auch für Tauf- und Hochzeitsgesellschaften ist sein modern gestaltetes Lokal äußerst beliebt. In der Küche verwendet er fast nur regionale Zutaten, darunter Waldkartoffeln und echte Trüffel aus dem Cholomondas-Gebirge. Seine Salate und Gemüsegerichte sind immer knackfrisch – und an Wochenenden gibt es gegrilltes Fleisch von Lamm, Zicklein und Spanferkel, das die Gästegruppen gleich kiloweise bestellen. Die Speisekarte erläutert der Wirt gern auch auf Flämisch und Deutsch.

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Gestrickt, nicht gemalt: Wandschmuck aus Arnea

Wirte für Wanderer

Auf der Fahrt auf der kurvenreichen Waldstraße zwischen Polygyros und Arnea sind häufig Wildschweine am Straßenrand zu sehen. Ganz wild sind die meisten nicht. Manchmal kümmern sich Hirten um sie, manchmal schränken Hunde ihre Freiheit ein und bewachen sie. Viele laufen auch ganz frei herum. Entwischen wollen sie gar nicht, denn durch regelmäßige Zufütterung sind sie ihren Besitzern eng verbunden. Vom Schlachter, der auf sie wartet, ahnen sie nichts. Die EU, die ein Förderprogramm für ihre Haltung aufgelegt hat, stuft sie denn auch gar nicht als Wild-, sondern als „Schwarze Schweine“ ein, wie sie auch in Spaniens Südwesten durch die Wälder streifen. Deren Schinken kostet in Europa mehr als 100 Euro pro Kilo. Die Chalkidiker verwursten die ihren bisher oder bringen nur ihre Koteletts auf den Tisch. Die EU will das aber als Wirtschaftsförderungsmaßnahme ändern.
Bratwürste und Koteletts vom Wildschwein sind denn auch die Spezialität in einigen Tavernen am Straßenrand. So zum Beispiel bei Kultwirt „Sogambros“, der seit über 50 Jahren einsam in seiner Waldtaverne lebt. Um seinen Gästen mehr als nur gutes Essen, Wein vom Heiligen Berg Athos und eine Atmosphäre wie in längst vergangenen Zeiten bieten zu können, hat sein Sohn jetzt sogar zwei Wanderwege im Gebirge gut markiert, die in Form einer Acht angelegt die Taverne als Ausgangspunkt haben.

Wanderer als Potenzial

Wanderer sieht auch Hotelier Dimitris Sarris aus dem kleinen Küstenort Olympiada als neues Gästepotenzial. Auch er hat jetzt in seiner Region zwei Wanderwege gut markiert. Einer führt zu Wasserfällen, unter denen man sogar baden kann. Der andere verbindet das heutige Bergdorf Stagira mit den Ausgrabungen des antiken Stagira am Ortsrand von Olympiada. Im Bergdorf steht eine Statue des Philosophen Aristoteles, im antiken Stagira wurde der Lehrer Alexanders des Großen 384 v. Chr. geboren. Es ist schon irgendwie ein irres Gefühl, durch die Ruinen eines Städtchens zu streifen, in denen der große Denker einst auf dem Töpfchen saß (die gab es durchaus schon, wie ein Exemplar im Athener Agora-Museum beweist). Nach einem Rundgang durch die erst 1990 begonnenen Ausgrabungen schmeckt ein Essen in der Hoteltaverne „Akroyiali“ besonders gut. Auch da erweist sich Wirt Dimitris als besonders kreativ: Seine Hotelgäste dürfen im Rahmen der Halbpension ihr Menü aus allem frei zusammenstellen, was die Küche bereithält. Nur für frischen Wildfisch und Krustentiere wird ein Aufpreis verlangt. Das ist doch eine echte Alternative zu All Inclusive!

Text: Klaus Bötig / Fotos: Christiane Bötig

Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 674 am 24. April 2019.

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