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Literarisches Inselhüpfen - Lesbos bietet ein Füllhorn guter Literatur Tagesthema

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Die Burg von Molyvos (© GZ/kb) ist der ideale Ort, um Longos zu lesen. Die Burg von Molyvos (© GZ/kb) ist der ideale Ort, um Longos zu lesen.

Mit Lesbos kann man lesend einen ganzen Monat und mehr verbringen und stößt dabei auf eine ganze Reihe von Werken griechischer Autoren, die zu eher unbekannten Schätzen der Weltliteratur gezählt werden dürfen.

Von Klaus Bötig

Mit Alkaios aus Mytilini und Sappho aus Eressos schenkte Lesbos der Welt den furiosen Auftakt zu lyrischer Dichtung. Von einem Chor vorgetragene lyrische Verse gab es schon vor den beiden, aber außer denen des Archilochos von Paros keine lyrischen Verse von Bedeutung, in denen ein Einzelner von sich sprach und die er allein in Begleitung der Lyra oder eines anderen Saiteninstruments vortrug. Beide Autoren lebten um 600 v. Chr., also in politisch stark bewegten Zeiten. Der Adel stritt mit den vom Volk gestützten Tyrannen um Werte, Macht und Einfluss. Der mehrfach durch Gegner von Lesbos verbannte Alkaios bezog darin eindeutig Partei für seinen Stand, den Adel. Viele seiner Verse sind politische Kampflieder oder Texte, die bei Trinkgelagen unter seinesgleichen vorgetragen wurden.

Sappho – faszinierend bis heute

Liebeslieder sind bei Alkaios selten. Bei Sappho jedoch bilden sie den Kern des Gesamtwerks. Sie scheint als Erzieherin für vornehme junge Mädchen und als Dienerin der Liebesgöttin Aphrodite tätig gewesen zu sein. Ihre Zeilen erzählen von ihrer privaten Welt, schildern offen ihre leidenschaftliche Zuneigung zu ihr anvertrauten Schülerinnen.

Dieser Sappho hat der englische Schriftsteller Lawrence Durrell, der vielen Inselhüpfern als Autor hervorragender Bücher über seine Zeit auf Korfu („Schwarze Oliven“) und Rhodos („Leuchtende Orangen“) bekannt ist, ein Theaterstück unterm Titel „Sappho“ gewidmet. Verfasst hat Durrell es  1947 auf Rhodos. Uraufgeführt wurde es im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg im Jahr 1959. Regie führte der berühmte Gustav Gründgens. Elisabeth Flickenschildt spielte die Titelrolle der Sappho, Maximilian Schell trat als Phaon auf, Bruder des lesbischen Feldherrn und späteren Tyrannen Pittakos. Die Textmenge, die die Schauspieler zu bewältigen hatten, war gewaltig, und erinnert an das, was antike Sänger wie Homer geleistet haben.

Das Drama in neun Szenen spielt im 7./6. Jahrhundert v.Chr. in Eressos. Sappho ist schon zu Beginn eine alternde, anfangs leicht stotternde, weltberühmte Dichterin mit immer mehr grauen Haaren. Sie ist Lesbierin, aber keineswegs lesbisch. Sie himmelt hier keine jungen Mädchen an, sondern mischt sich in die Politik ein. Sie hat zwei Kinder mit ihrem Ehemann, einem wohlhabenden Händler – der sich später als ihr eigener Vater entpuppt. Der Machtmensch Pittakos liebt sie, verbannt sie aber dennoch nach Korinth, von wo aus sie den Untergang des Pittakos vorbereitet.

Das Stück ist nur gute Lektüre für den, der komplizierte Gedankengänge nicht scheut. Es ist keine leichte Kost, kann aber durchaus intellektuelles Vergnügen bereiten.

Wer Sappho lieber auf die leichte Art kennenlernen möchte, hat dazu aber auch Gelegenheit. Der Münchner Siegfried Obermeier spinnt ihre Lebensgeschichte auf über 400 Seiten in seinem Roman „Sappho“. Hehre Literatur ist das nicht, aber für Lesbos-Fans eventuell von Interesse.

Psychologen und Dichter

Etwa 200 Jahre nach dem Tod von Alkaios und Sappho wurde 371 v. Chr. in Eressos der große Philosoph Theophrast geboren. Er wurde in Athen zu einem Schüler und Freund des Aristoteles. Zahlreich und zum Teil bis heute nachwirkend waren seine Untersuchungen zur Pflanzen- und Tierwelt, Geologie und Meteorologie sowie  dem menschlichem Sein. Er erkannte als einer der ersten, dass sich alles Leben an die Umwelt und die Umstände anpasst und schrieb eines der besten frühen Werke über die Geschichte der Philosophie. Sein bis heute meistgelesen Buch sind die „Charaktere“, eine Schilderung von 30 menschlichen Charaktertypen. Kurz und prägnant erläutert er da z. B., was „Unerzogenheit“ bedeutet: Sie „besteht in einem Verhalten, das anderen lästig wird, ohne sie zu schädigen.“

Großen Einfluss übte Theophrast auf seinen Schüler Menandros (auch: Menander, 342-291 v. Chr.) aus, einen Athener Komödiendichter. Ein Porträt des Dichters und Szenen aus seinen Stücken sind als Mosaike im Archäologischen Museum von Mytilini ausgestellt. In über 100 Komödien reflektierte er das Alltagsleben der Bürger Athens, zeigte ihre Unzulänglichkeiten und Schwächen auf – und wurde so zu einem der Vorbilder Molières.

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In der Hauptstadt Mytilini sind Meraners Komödienfiguren zu sehen.

Schönster Liebesroman der Antike

Für die Schäferdichtung des europäischen Barock war ebenfalls ein Lesbier das große Vorbild: der um 200 v. Chr. geborene Longos, der mit „Daphnis und Chloe“ einen der schönsten Liebesromane der Weltliteratur schrieb. Er spielt irgendwo zwischen Mytilini und Methymna und beginnt märchenhaft: Ein Bauer findet auf dem Feld den Knaben Daphnis, der von einer Ziege gesäugt wird. Zwei Jahre später ein Nachbar in einer Nymphengrotte das Mädchen Chloe, das von Schafen umsorgt wird. Bei beiden Kindern liegt reicher Schmuck, der eine hohe Abstammung vermuten lässt. Als sie 15 und 13 Jahre alt sind, treiben die beiden adoptierten Kinder zum ersten Mal ihre Herden gemeinsam auf die Weide. Es erfasst sie ein merkwürdiges Gefühl, das sie nicht zu deuten wissen. Longos schildert diese zart knospende, unschuldige Liebe so einfühlsam wie das Erwachen der Natur im Frühling. Ihm gelingt eine filigrane erotische Studie, die nichts verschleiert und dennoch dezent bleibt. Das Werk liegt in verschiedenen deutschsprachigen Ausgaben vor. Eine davon ist sogar mit Werken von Marc Chagall illustriert.

Ausländische Autoren

Richtig zur Sache geht es hingegen im Roman „Furien in Ferien“ der 1955 geborenen Österreicherin Karin Rick. Er ist 2004 in Deutschlands erstem lesbisch-schwulen Verlag, dem Querverlag, erschienen. Er ist sehr körperintensiv, aber wegen seiner spannenden Krimihandlung und seinen Beschreibungen der Griechen vor Ort auch für Menschen ohne starke voyeuristische Neigung gut zu lesen. Sympathie für Griechen ist hier allerdings nie zu spüren, auch nicht für griechische Frauen – anders als in den meisten Griechenlandkrimis. Er spielt vorwiegend da, wo die lesbische Dichterin Sappho im 7. Jahrhundert v. Chr. geboren wurde: In Skala Eressos, einem Küstenort mit traumhaft langem Sandstrand, der im Sommer fest in der Hand von Lesbierinnen aus aller Welt ist. Die Szene wird mit offensichtlichem Insider-Wissen ausführlich beschrieben. Im Mittelpunkt stehen einige österreichische und britische Frauen, ein despotischer Bürgermeister und dessen ihm fast höriger Sohn, der eigenartige Auffassungen von seiner Rolle als Polizist hat. Mehrere Tötungsdelikte an diversen Männern gilt es aufzuklären, die alle Merkmale von Ritualmorden tragen. Der Plot wird stimmig entwickelt, auch die Lösung macht Sinn. Langweilig wird der Roman nicht, als jugendfrei kann man ihn freilich nicht bezeichnen.

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Gut lesen lässt es sich auch am Hafen von Molyvos.

Literarische Schwergewichte

In der Neuzeit hat Lesbos Griechenland einen anspruchsvollen Romanautor geschenkt, von dem besonders viele Werke ins Deutsche übersetzt wurden: Den aus Sykaminias stammenden Stratis Myrivilis (1982-1969). Die erfolgreichste Übersetzung wurde sein Roman „Die Madonna mit dem Fischleib“, der in seinem Geburtsort, in dem er eindringlich das Leben armer Fischer und Bauern, aber auch die Feindschaft zwischen Alteingesessenen und kleinasiatischen Flüchtlingen schildert. In der Erzählung „Vassilis. Der Mythos des Tapferen“ ist ein Dorfjunge die zentrale Gestalt, für den Tapferkeit die höchste Tugend ist. Die Handlung langweilt vielleicht, doch man erfährt viel über das Leben und Denken auf Lesbos vor gut 100 Jahren. Großartig, aber gerade in der jetzigen Zeit besonders bedrückend ist sein wohl bestes Buch „Das Leben im Grabe“. Es ist das fiktive Tagebuch eines lesbischen Kriegsfreiwilligen, der ab 1917 in den Schützengräben Makedoniens leidet und sich nach seinem Mädchen auf der Insel sehnt. An Intensität steht es dem Klassiker „Im Westen nichts Neues“ von Erich-Maria Remarque in nichts nach. Ich habe für die Lektüre einen Monat benötigt, denn mehr als drei bis vier Seiten konnte ich pro Tag seelisch nicht ertragen.

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