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Die Schönheit der über-irdischen Unterwelt

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Foto (© GZlg): Ebene des Acheron-Tals. Foto (© GZlg): Ebene des Acheron-Tals.

Ganz unscheinbar zwischen dem westgriechischen Hafen Igoumenitsa und der Stadt Preveza am Ambrakischen Golf liegt eine mystische Orakelstätte an einem mythischen Fluss: das Nekromanteion am Acheron.

Das Nekromanteion – das Totenorakel – befindet sich auf einem Hügel in Epirus, von dem aus man die Ebene des Acheron-Tals überblicken kann. Der Acheron, ein 58 Kilometer langer Fluss in Nordwestgriechenland, ist der Todesfluss. Charon ist der Fährmann in der griechischen Mythologie, der die Toten für einen Obolus, eine Münze, in seinem Boot über die Mitte des Flusses bringt, damit sie wohlbehalten in das Reich des Hades, des Herrschers der Unterwelt, gelangen. Die Ausgrabungsstätte mit ihrem Tempel, den Räumen, mit Ali Paschas Festungshaus und dem Totenorakel befinden sich oberhalb des Dorfes Mesopotamos, was übersetzt heißt: „in der Mitte des Flusses“.

Sagenumwobener Zugang

Auf das Dorf stößt man auf der Straße zwischen der westgriechischen Hafenstadt Igoumenitsa, Parga und dem 44 Kilometer entfernten Preveza. Zuletzt hat vor einigen Jahren die Lektüre von Frank Schulz’ Roman „Das Ouzo-Orakel“ meine Neugierde auf die archäologische Fundstätte des Nekromanteions von Acheron wieder geweckt. Verschiedenen Quellen zufolge ist dies der Tempel von Hades und der Todesgöttin Persephone, in dem sich der sagenumwobene Zugang zur Unterwelt befindet. Unter der Aufsicht von Professor Sotirios Dakaris wurden in Zusammenarbeit mit der Universität Ioannina und der Archäologischen Gesellschaft in Athen erstmals in den 1960ern und dann wieder in den 1970ern Ausgrabungen durchgeführt. Um den Gebäudekomplex freizulegen, ging Dakaris von Herodots Quellen sowie von recht detaillierten Ortsangaben in Homers „Odyssee“ aus. Der heutige Bau geht jedenfalls zurück bis auf das 3. Jahrhundert v. Chr.

Bekannt seit Homer und Herodot

Die römischen Invasoren brennen den Tempel 167 v. Chr. nieder, und erst im 18. Jahrhundert werden die Räumlichkeiten während der osmanischen Herrschaft wieder instand gesetzt und benutzt. In dieser Periode wird die Koulia, das zweistöckige Festungshaus am Eingang des Tempels errichtet und vom berühmt-berüchtigten Ali Pascha bewohnt. Auch als Löwe von Ioannina bezeichnet herrscht der Pascha albanischer Herkunft bis zu seinem Tod im Jahr 1820 über große Teile Albaniens und Griechenlands. In der Koulia findet man Krüge, Becher und Teller vor, die in Epirus, auf Korfu oder gar in Italien hergestellt wurden. Durchaus faszinierend ist der ältere Teil aus der Periode der Koalition von Epirus um 330 bis 232 v. Chr., aus der das sagenhafte Totenorakel stammt.
Hier, im Tempel, zu dem man über die Hintertreppe des Festungshauses über einen Innenhof gelangt, fanden einst Rituale statt. Hier nahmen Priesterinnen und Priester Kontakte zur Unterwelt auf, so dass die Lebenden eine Verbindung zu den Verstorbenen herstellen sollten.
Bis zu den Ausgrabungen vor mehr als 50 Jahren war die Lage des von Herodot und Homer erwähnten Heiligtums unbekannt. Und dann entdeckte Dakaris tatsächlich die Orakelstätte der antiken Stadt Ephyra unter den Ruinen des Friedhofs und der im 18. Jahrhundert erbauten Kirche Johannes’ (Ioannis) des Täufers. Bei den Ausgrabungen fand man keine Ӧffnung vor. Der mit über drei Metern dicken Mauern umschlossene, 22 Quadratmeter große, unterirdische Raum war verschüttet, versteckt.

Sehenswürdigkeit erster Klasse

Bei einer Besichtigung in unseren Tagen kann man den Eingang zum Nekromanteion immer noch leicht übersehen. Von einer knapp einen Quadratmeter großen Ӧffnung in der Erde führt eine senkrechte, rutschige Stahltreppe hinab in die „Unterwelt“. Die Orakelstätte ist, wie sich erweist, ein Kultraum, eine Sehenswürdigkeit erster Klasse. Oder, wenn ich es so ausdrücken darf, eine „Hörenswürdigkeit“. Niemals war ich an einem stilleren Ort! In dieser unterirdischen Welt ist die Stille so absolut, dass man sie rauschen, dass man sie vibrieren hört. Auch ich stehe still – regelrecht fasziniert! Mir wird bewusst, dass ich meinen eigenen Herzschlag höre. Vom Rauschen in meinen Ohren ausgehend höre ich in diesem, mit seinen Steinbögen umwölbten Raum das Blut durch meine Adern fließen. Man braucht nicht besonders religiös oder spirituell veranlagt zu sein, um von diesem unterirdischen Erlebnis in Staunen versetzt zu werden.
Draußen in der Oberwelt berichte ich der Aufsichtsperson, dass ich nie zuvor an einem stilleren Ort gewesen sei. Das sei den Archäologen bewusst, gibt die Dame Auskunft, die porösen Steine würden jeden Laut absorbieren. „Mit einer kranähnlichen Apparatur“, fährt sie fort, „warfen die Priester bei den Ritualen einst Figuren über die Tempelmauern. Diese stellten die Schatten der Verstorbenen dar, zu denen die Lebenden Kontakt aufnehmen wollten.“

Idyllischer Ort am Meer

Im Roman „Das Ouzo-Orakel“ berichtet der Autor auch über die Bewohner und über eine seiner Lieblingstavernen in dem Dorf, in dem der Acheron-Fluss ins Meer mündet. Wir erkundigen uns am Eingangshäuschen, in dem die Tickets zur Besichtigung der Ausgrabungsstätte zu erstehen sind, in welchem Ort der Totenfluss Acheron ins Meer mündet. In Ammoudia, teilt man uns mit. Also spazieren wir vom Hügel des Nekromanteion wieder hinunter ins Dorf Mesopotamos, wo wir den Wagen geparkt haben, und machen uns auf nach Ammoudia. Von Mesopotamos aus sind es nur wenige Kilometer bis zum besagten Fischerdorf, das an der Küste des Ionischen Meeres, etwa zehn Kilometer südlich der Stadt Parga, liegt. Wir finden einen idyllischen, stillen Ort vor, an dem vorbei der bereits von Homer erwähnte Fluss ins Meer fließt. Der Acheron ist von einem wunderbar satten Grün – zur einen Seite von Röhricht gesäumt und von viel Schilf, zu seiner anderen ankern die Fischerboote an der Ufermauer. Wir suchen uns einen Parkplatz abseits des Schildes mit der Aufschrift „PARKING ONLY BOATMEN FROM PARGA“ und gehen zu Fuß am Flussufer entlang.

Deutsch an den Ufern des Totenflusses

Wir spazieren an einigen Tavernen und an einem Tante-Emma-Laden vorbei bis hinunter zu einer kleinen Bucht mit einem ruhigen Sandstrand und kristallklarem Wasser. Hier führt ein befestigter Steg aufs offene Meer hinaus. Wundersam anzuschauen sind die Farbnuancen zwischen dem auf der einen Seite des Stegs türkisfarbenen Meeres und dem jadegrünen Fluss auf der anderen Seite. Und hier, am Ende des Stegs, mündet der Acheron, der mythologische Totenfluss, ins Meer. Dass sich so manche Deutsche hier einfinden, bemerkt man nicht nur an der unter einem Baum abgestellten Autoleiche mit dem verblichenen Aufkleber Putz Munter. Auch in der Taverne, die wir aufsuchen, redet man, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund, Deutsch.

„Mein besste Freund“

In der Orakelstätte hatte ich eine erste Überraschung erlebt: die der absoluten Stille. Und die zweite Überraschung folgte wenig später. Auf unserem Rückweg von der Bucht, nur wenige Meter vom Tante-Emma-Laden entfernt, erkenne ich sie wieder: die Taverne aus Frank Schulz’ Ouzo-Orakel! Sie sieht immer noch genauso aus, wie sie im Roman beschrieben wird. Unter der Laube setzen wir uns an einen Tisch mit weißblauem Karomuster. Ich frage den Tavernen-Betreiber sogleich nach dem Autor aus. Ob ein gewisser Frank Schulz sich hier aufgehalten habe? Ob Besagter ein Buch über diesen Ort geschrieben habe? – „Aberr klarr, derr ist mein besste Freund“, meint er und gibt sich als Spyros der Jüngeren aus Schulzes Buch aus! – „Komme mal rrein, mal kukken!“
In der Taverne mit ihren drei, vier koexistierenden Stuhlgenerationen, wie es im „Ouzo-Orakel“ heißt, steht ein Rahmen mit einem Zeitungsartikel über Buch und Autor auf dem Heizkörper. Mit deutscher Flagge am Fotorahmen inklusive. Wieder draußen setzt Spyros der Jüngere uns frischen Fisch von seinem morgendlichen Fang vor, Tzatziki, Tirokafteri, Pommes und griechischen Salat. „Alles aus Haus, alles von Hand“, erklärt er uns. Und wir sitzen am Fluss, im Garten von Spyros’ Taverne. Und lachen. Über die verblichenen Schilder, die in ulkigstem Kauderwelsch Bootsfahrten ankündigen, über Spyros’ interessanten Gebrauch der deutschen Sprache, über die schiefe Markise des lokalen Kleinladens. Natürlich trinken wir Ouzo.

Wunderbarer Ausflug

Am jenseitigen Ufer des Totenflusses leuchtet das Röhricht im Dämmerlicht. Ein alter Grieche spaziert am Ufer auf und ab, um das beste Plätzchen zum Angeln auszukundschaften. Zwei Hunde wuseln um die vertäuten Schiffskähne herum.
Was das Ouzo-Orakel Frank Schulz einst verkündete, verrate ich Ihnen nicht. Was die Orakelstätte mir offenbart hat? Eine Stille, in der ich mein Herz schlagen hörte, und in der ich meinen Körper – Sie können mich ruhig auslachen – erstmals als einen Tempel meiner inneren Organe wahrnahm. Auch habe ich endlich den Ort aufgesucht, an dem der Acheron ins Meer mündet. Das war ein wunderbarer Ausflug, ein ganz toller Tag. „Ich liebbe das Lebben!“ Und bitte noch einen Ouzo, Spyros!

(Griechenland Zeitung / Linda Graf)

Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 743 am 23. September 2020.

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