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Carries Geschichte

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Carries Geschichte

Meine Geschichte spielt auf der Insel Samos. Eigentlich ist es gar nicht meine Geschichte. Es könnte meine Geschichte sein, denn ich reise seit 2007 regelmäßig auf die Insel und erlebe dort viel. Es ist aber die Geschichte von Carrie (Name geändert) aus England, die ich bis Juni dieses Jahres noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe und die mir vielleicht auch nie mehr begegnen wird und wenn doch, dann ganz sicher wieder auf Samos.

„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich reise seit 10 Jahren mit meinem Mann und meiner Schwester nach Samos. Immer wenn ich aus dem Flugzeug steige, fühle ich mich wie zu Hause angekommen.“, sagte sie mir mit einem verzückten Gesichtsausdruck bei einer Tasse Tee vor dem Geschäft des Bouzoukibauers Yannis in Pythagorio.

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„Meine Eltern haben mich in England in die Welt gesetzt, doch Gott hat mir den Weg nach Samos gezeigt.“, raunte sie mir ein paar Minuten später mit einem verschmitzten Lächeln in einer kurzen Spielpause der Musikschüler von Yannis zu, die vor dem Laden im Schatten saßen und beherzt in die Saiten griffen. „Das ich heute hier bin, ist ein Wunder.“

Carrie ist sehr gläubig. Als kurz nach dem letzten Sommerurlaub ihre Schwester plötzlich und unerwartet starb, brach für sie eine Welt zusammen. Nur mit großer Mühe gelang es ihrem Mann, sie von einer weiteren Reise nach Samos zu überzeugen.WP 20150604 11 56 00 Pro.jpgsmall

 

Nach zwei unglaublich schwermütigen Tagen auf der Insel fuhr Carrie mit der „Liniengaleere“ der KTEL von Pythagorio nach Samos-Stadt, um dort ein Andenken an ihre Schwester zu erstehen. Beide Frauen hatten stets in einem kleinen Schmuckgeschäft in der Fußgängerzone gebummelt und so wollte sie dort nach einem passenden Erinnerungsstück suchen. Sie ließ sich von der Verkäuferin Ketten zeigen, bekam Ringe angesteckt und Armbänder umgelegt und nach über einer Stunde wilder Anproben entschied Sie sich schließlich für ein Medaillon.

Mit dem Bus ging es zurück ins Hotel und mit ihr reiste auch ein filigranes Armband aus Silber, das sich nahezu unsichtbar an ihr Handgelenk schmiegte und aus eben diesem Grund nicht von ihr bemerkt und somit auch nicht bezahlt worden war.

„Oh, my god!“, entfuhr es Carrie an dieser Stelle der Erzählung und die Kinder hörten abrupt mit dem Stimmen ihrer Instrumente auf. „Kannst du dir das vorstellen? Du sollst nicht stehlen! Ich komme vor lauter beten kaum zum Teetrinken und dann klaue ich im Urlaub ein Armband. Unbelievable!“
Carrie setzte sich am nächsten Morgen in den Bus und fuhr erneut nach Samos-Stadt. Dort musste sie allerdings feststellen, dass der Laden an diesem Tag erst gegen Mittag öffnete. Sie verbrachte die grauenhaftesten zwei Stunden ihres Lebens in der Fußgängerzone und als der kleine Laden endlich aufgemacht wurde, stürmte sie sofort auf die junge Verkäuferin vom Vortag zu.

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Ohne Unterbrechung berichtete sie der völlig überraschten Frau von dem schweren Diebstahl des Armbands, den Tod ihrer Schwester, ihrer Gläubigkeit, ihrer Angst vor einem griechischen Gefängnis und vermutlich auch von den Fußballergebnissen der Premier League in England. So genau wusste sie das nicht am Ende mehr.

Die junge Frau ließ den Wortschwall über sich ergehen. Sie nickte und ging nach hinten, um den Chef zu holen. Es dauerte nur zwei Minuten, doch Carrie kamen diese Minuten wie zwei Stunden vor. Sie rechnete jeden Augenblick mit dem Eintreffen der Polizei. Die kam nicht, dafür aber ein freundlich lächelnder Chef aus dem Hinterzimmer. In der Hand hielt er einen kleinen Karton, den er der völlig verdattert schauenden Carrie in die Hand drückte.

„Gute Frau, dies ist ein Geschenk für Sie von mir. Ich habe vor kurzem meinen Bruder verloren. Behalten Sie das Armband und kommen Sie im nächsten Jahr einfach wieder vorbei. Ich freue mich auf Sie.“
„Unglaublich, oder?“, fragte mich Carrie und ich konnte nur ergriffen nicken. „Der Mann kennt mich gar nicht und schenkt mir das Armband. In England wäre ich schon für den bloßen Gedanken an einen Diebstahl verhaftet worden. Das ist Griechenland… Das ist Samos!“

Heiko Mittelstaedt

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Dieser Beitrag und die Fotos wurden uns im Rahmen unseres Leserwettbewerbes zum zehnjährigen Jubiläum der Griechenland Zeitung von Heiko Mittelstaedt aus Hemsbachin Deutschland zugeschickt. Wir möchten uns dafür ganz herzlich bedanken.

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