Im kretischen Dorf Vorizia ist ein Streit zwischen zwei Familien eskaliert. Nach einer Schießerei mit zwei Toten und mehreren Verletzten steht das Dorf unter Polizeischutz. Die Behörden befürchten eine Vendetta und versuchen, eine friedliche Lösung herbeizuführen.
Im Dorf Vorizia bei Heraklion auf der Insel Kreta droht eine Vendetta auszubrechen. Am Samstag (1.11.) ist es zu einem Schusswechsel zweier verfeindeter Familien gekommen. Zwei Menschen, jeweils eine Person aus den beiden Familienclans, verloren dabei ihr Leben: eine 56-jährige Frau und ein 39-jähriger fünffacher Vater. Etwa 14 Personen wurden verletzt, sechs von ihnen gehörten nicht zu diesen beiden Familienclans. Seither sind etwa 300 Polizisten in dem Dorf und der umliegenden Gegend stationiert.
„Geisterdorf“ mit leeren Straßen
Verhaftet werden konnten am Dienstag drei Brüder, die nach dem Vorfall geflüchtet waren und sich nach Gesprächen auf Anraten der Familienältesten gestellt hatten. Die Polizei hatte nach ihnen ua im umliegenden Bergen gesucht. Kompliziert wird die Situation, da der jüngste von ihnen – ein Neunzehnjähriger – derzeit bei der Armee ist und dadurch das Militärrecht angewendet werden dürfte.
Der genaue Ablauf der Ereignisse konnte noch immer nicht geklärt werden, da es weder Videomaterial von dem Vorfall gibt, noch konkrete Zeugenaussagen. Für die Ermittler ist es schwer, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Noch immer unklar ist etwa auch die Anzahl der Beteiligten. Auch die Tatwaffen konnten noch nicht sichergestellt werden.
Die beiden Familien sind seit Jahren wegen Grundstücksstreitigkeiten verfeindet. Eskaliert ist die Situation, nachdem seitens einer Familie ein Haus auf der Seite des Dorfes gebaut wurde, das von der anderen Familie beansprucht wird. Am Freitag detonierte in diesem Gebäude ein Sprengsatz, es entstanden erhebliche Sachschäden. Dem Vernehmen nach kam es am darauffolgenden Tag zur Schießerei mit Todesfolge.
Seither gleicht das Dorf einem Geisterort. Journalisten vor Ort berichten, dass sich niemand mehr auf die Straße wagen würde. Die Schulen bleiben vorerst bis Freitag geschlossen. Kinder, Eltern und Lehrpersonal sollen außerdem durch Psychologen betreut werden, die zum Teil extra aus Athen anreisten.
„Samsos“ – Versöhnung?
Nun befürchten die Behörden, dass zwischen den beiden Familienclans eine Vendetta eröffnet werden könnte. Während die eine Familie einen „Samsos“, zu gut Deutsch: eine Versöhnung, sucht, schlägt die zweite Familie diesen Vorschlag aus. Einige Mitglieder der beteiligten Familien erklären bereits, dass man ihnen gedroht habe.
Die Beerdigung der beiden Verstorbenen fand unter großer Polizeipräsenz statt. Es wurden Spürhunde und Metalldetektoren eingesetzt, um weitere blutige Vorfälle zu vermeiden. Die Pressesprecherin der Griechischen Polizei Konstantia Dimoglidou erklärte gegenüber dem staatlichen Nachrichtensender ERT, dass die Polizei bereits im August und September zwei größere Suchaktionen in der weiteren Gegend um Vorizia durchgeführt hatte. Damals wurden mehr als 100 Schusswaffen sichergestellt. Den Kretern wird eine ausgesprochene Liebe zu Waffen nachgesagt. Vertieft wurde das Faible wohl auch durch die lange Zeit der Besatzung durch Osmanen, deren Vorrecht es Krieg war, Waffen zu tragen. Häufig sollen sie dieses Privileg zur Schau gestellt haben. Geschult wurden die Kreter im Umgang mit Schusswaffen vor allem im Widerstandskampf gegen die osmanischen und später gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg. Heute sind auf Kreta mehr als 100.000 Schusswaffen offiziell registriert; Schätzungen zufolge könnte aber bis zu eine Million auf der Insel gelagert werden, das Gros davon illegal. Vor allem in Gebirgsdörfern sollen viele Familien ganze Waffenarsenale besitzen. Versteckt werden diese nicht nur im Haus, sondern häufig auch in Kirchen, auf Friedhöfen oder auch in Felshöhlen im Gebirge.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Vertreter der Ordnungskräfte erklären, dass Polizisten während ihres Dienstes verletzt wurden, die in der Gegend stationiert waren.
Das Dorf Vorizia hatte bereits 1955 mit einer blutigen Vendetta für Schlagzeilen gesorgt. Damals kamen acht Personen ums Leben. Die heutige Situation im Ort hat jedoch nichts mit den damaligen Vorfällen zu tun. Wie ERT berichtet, handle es sich bei einem der vor 70 Jahren Ermordeten um einen Vorfahren der einen der beiden beteiligten Familien.
Vorizia liegt am südlichen Fuße des Psiloritis-Berges. Die Ortschaft ist mit einer 53 Kilometer langen Asphaltstraße mit Heraklion verbunden. Die Völkerzählung von 2021 ergab 504 Einwohner. (Griechenland Zeitung / Elisa Hübel)