Login RSS

Paranesti: Wald, soweit das Auge reicht

  • geschrieben von 
Paranesti: Wald, soweit das Auge reicht
Wer Griechenland nur als wald- und wasserarm kennt, war noch nie in den Rhodopen. Da reichen Laub- und Nadelbäume von den höchsten Bergkämmen bis zu rauschenden Wasserfällen in vielen Bachtälern hinab.
 
In Paranesti gibt es zwei moderne Hotels. Da Hotels in den griechischen Bergen in diesem Jahr unter rasantem Besucherschwund leiden, verzichte ich auf eine telefonische Reservierung – und erlebe mein blaues Wunder. Im „Philoxenia“ bedauert man sehr, mir kein Zimmer geben zu können, da alle belegt sind. Im „Nessos“ habe ich mehr Glück. Die Suite ist als einziges noch frei, man gibt sie mir zum normalen Zimmerpreis von 45 Euro. Beim Einchecken muss ich meine Handy-Nummer hinterlassen, „damit wir dich anrufen können, falls du abends nicht zurück kommst.“ 
Die Suite muss erst noch geputzt werden, ich soll in der Lobby warten. Da sitzen schon über ein Dutzend zumeist jüngere Männer, spielen Tavli oder Karten, sehen fern, tragen fast alle eine Pistole am Gürtel. Der Hotelier sieht meinen irritierten Blick, lädt mich auf einen Kaffee ein, erklärt mir die Situation: Drunten im Ort liege eine Militärkaserne, die leer stand, weil das nahe Bulgarien nun ja auch NATO-Mitglied und seitdem nicht mehr ein Feind sei wie in den Jahren vor 1990. Da habe man nun 300 Asylbewerber eingesperrt und Polizisten aus ganz Griechenland zusammenzogen, um sie zu bewachen. Und die wohnen nun in den Hotels. Die Kosten trage die kluge Angela Merkel, die lieber dafür bezahlt, dass sie in Griechenland bleiben, statt sie in Deutschland aufnehmen zu müssen…
 
Frische Eier statt guter Karten 
 
Der Hotelier versorgt mich auch mit ein wenig Literatur auf Griechisch und Englisch, die zum Teil sehr gute Karten enthält. Die hatte ich vorher drunten im Dorf am Kiosk vor dem Bahnhof vergeblich gesucht. Da gibt es nicht einmal Ansichtskarten – dafür aber täglich frische Eier aus dem Stall des Kioskbesitzers. Und gleich daneben steht eine Tafel mit den Vornamen und Telefonnummern der vier Taxibesitzer von Paranesti. Ich notiere sie mir vorsorglich, falls mein Jeep morgen bei der Fahrt durch Griechenlands dichteste Wälder unterwegs liegen bleibt.
Zu einer ersten kurzen Fahrt breche ich nach Beratschlagung mit dem Hotelbesitzer noch am Nachmittag auf. Auf gutem, noch recht jungem Asphalt geht es gen Norden. Ein kleiner Wegweiser macht auf die „Kataraktis tis AgiasVarvaras“ aufmerksam, die Wasserfälle der hl. Barbara. Ein Feldweg bringt mich zu einem Picknickplatz mit Grill und Feuerplatz, ein Pfad durch ein Wäldchen aus Wildkirschen, Walnussbäumen und Hopfenbuchen von dort zum Ziel. Etwa zehn Meter stürzt das Wasser hier in ein kleines Felsbecken zwischen Erlen und Weiden hinunter, am Ufer steht wieder ein Grill. 
Dann geht es hinauf nach Prassinada, einem großen Dorf auf 680 Meter Höhe, in dem gerade noch 25 Menschen leben. Ich stoppe vor dem kleinen Kirchlein der hl. Katerina mit ihrem schönen Garten und folge der aushängenden Bitte: „Wenn Sie gehen, lassen Sie die Blumen nicht ungewässert und die Tür nicht offen“. Am Ortseingang von Prassinada ist ein gelbes Schild schwerer verständlich: „Kalosoriseten so’ chorion emoun“ begrüßt da der Pontische Kulturverein die Ankommenden. Er hat auch ein schönes Kafenio am Dorfplatz errichtet, einen kleinen Park angelegt. Trotzdem stehen sogar die meisten Hundehütten leer, tragen die meisten neben den Häusern abgestellten Autos keine Nummernschilder mehr. Später lerne ich, dass Prassinada, wie die meisten Dörfer in den Wäldern von Paranesti, einst von Türken bewohnt waren. Nach dem großen Bevölkerungsaustausch in den 1920er Jahren wurden hier pontische Griechen angesiedelt, die Dörfer blühten auf. Im Zweiten Weltkrieg wurden viele Siedlungen von den bulgarischen Besatzungstruppen niedergebrannt, andere danach verlassen. Nur wenige Ruinen zwischen dichtem Grün zeugen von diesen einst blühenden Gemeinden, in denen die Menschen von der Viehzucht und der Forstwirtschaft lebten. Prassinada hatte das Glück, erhalten zu bleiben. Die Landschaft ringsum wirkt phantastisch: auf der gegenüberliegenden Talseite scheinen Felsen aus dichtem Wald heraus, über dem Ort thront das alte Kloster Metamorphosis, in dem nur noch ein einziger Mönch lebt.  
 
Sophia & Co.
 
Zurück im Hotel, laden mich Sophia und ihr Mann, der Hotelbesitzer Gavriil, an ihren Tisch im Garten ein. Tsipouro und Mezedakia sind schnell serviert. Eine Gemeinsamkeit ist schnell gefunden: Sophia hat auf ihrem Smartphone auch die Flight-Radar-App installiert, weiß, woher die Maschinen, deren Kondensstreifen sie hoch am Himmel sieht, kommen und wohin sie in welcher Höhe und mit welcher Geschwindigkeit fliegen. So fühlt sie sich in  ihrer Bergeinsamkeit mit der großen weiten Welt verbunden. Ich erfahre mehr über die Familie. Sophia ist gelernte Krankenschwester, Gavriil Agrar-Ingenieur. Außer dem Hotel betreibt er im Dorf auch einen Agrarhandel mit Pflanzenschutzmitteln und Tiermedizin. Mutter Sultana kommt hinzu, spricht Deutsch: Sie hat einst mit ihrem Mann Periklis in Waiblingen sieben Jahre lang gearbeitet. Sie ist die Köchin im Haus, bereitet für die einquartierten Polizisten die Vollpension zu: gestern dreierlei gefüllte Gemüse, heute Spaghetti bolognese. Der Staat zahle die Rechnung, versichert sie – „zwar unregelmäßig, aber irgendwann dann eben doch.“ Für die Hotels im Ort sei „I Merkel“ mit ihren Asylbewerbern die Rettung gewesen …
Dann beratschlagen wir mein morgiges Tagesprogramm. Ich will tief in die Wälder des Nationalparks vordringen, bis nahe der bulgarischen Grenze, bis zu den „Jungfräulichen Wäldern“, die der besondere Schatz dieser Region sind. Gavriil verdonnert seinen 70-jährigenVater Periklis dazu, mit mir zu fahren. Der war schließlich 17 Jahre lang Forstarbeiter in diesem Revier, kenne jede Kurve und fast jeden Baum.  
 
Heißes Bad und jungfräuliche Wälder
 
Am nächsten Morgen ist Periklis pünktlich um 7 Uhr zur Stelle. Sultana steht schon in der Küche und bereitet das Picknickpaket für uns zu – Tavernen oder Kafenia werden wir an diesem Tag auf unserer 120 Kilometer langen Tour nicht finden. Unseren ersten Halt legen wir am Stausee vom Platanovrisi ein. Hier werden der Nestos und der „Teufelsstrom“  Diavolorema aufgestaut. Weiter am Nestos aufwärts gibt es noch einen zweiten Stausee, den von Thisavros. Dort werden jährlich mit Wasserkraft 440 Gigawatt Strom erzeugt. 
Unser nächstes Ziel sind die heißen Quellen von Thermia, wo die Asphaltstraße endet. Hier steht als einziges steinernes Gebäude ein byzantinischer Hamam, der dem Einsturz nahe ist. Weil das Forstamt die Errichtung neuer Gebäude verbietet, haben die „Kurgäste“ hier früher gezeltet und sich inzwischen über 50 schäbig aussehende Hütten aus Wellblech erbaut. Sie kommen im Sommer für ein paar Tage oder auch Wochen aus ihren Dörfern hierher, um die Heilkraft des 55 Grad heißen Wassers zu nutzen, das hier aus privaten Bohrungen ebenso entspringt wie in der kleinen, öffentlichen Badehütte mit steinernem Mini-Bassin. Kein Mensch lebt ständig hier oben, nur ein paar zahme Hunde streunen durch den Bade-Slum. Periklis führt mich herum und sucht nebenbei nach altem Wellblech, das er kraftvoll faltet und dann im Kofferraum des Jeeps verstaut. Er will damit den Zaun um sein Hühnergehege in Paranesti  ausbessern. 
Auf guter, auch von Pkw vorsichtig zu befahrender Piste geht es weiter ständig bergan, bis wir auf 1440 Meter Höhe auf eine geschlossene Schranke stoßen. Sie öffnet sich nur an Wochenenden, wenn hier ein Wärter des Forstamts anwesend ist. Jetzt müssen wir den Rest des Weges zum jungfräulichen Wald von Frakto weiterlaufen. In diesem Jahrtausende alten Urwald ist seit 1980 nur Forschung als einzige menschliche Tätigkeit zugelassen, ansonsten hat hier allein die Natur das Sagen. Schwarzkiefern, Bulgarien-Tannen, Waldföhren und Rotfichten prägen ihn zusammen mit Birken, Buchen, Ahorn und Weiden, die den Wald im Herbst in ein Farbenspektakel verwandeln.
Nach der Wanderung genießen wir auf einem winzigen Picknickplatz an gemauertem Brunnen, was Sultana am Morgen eingepackt hat. Der Ausblick ist einzigartig: Mischwald, soweit das Auge reicht, keine Weide, keine Felder und kein Dorf dazwischen. Kein einziges Auto ist uns auf der 60 Kilometer langen Strecke hierher entgegen gekommen. Nur jetzt fährt ein Pkw vorbei, in dem vier Chinesen sitzen. „Wollen die jetzt auch unsere Wälder kaufen?“, fragt Periklis.
 
 
Klaus Bötig
 
Nach oben

 Warenkorb