Login RSS

Gebirgsdörfer im Pindos: Trennende Schluchten, verbindende Nähe Tagesthema

  • geschrieben von 
Die zwei Gebirgsdörfer Sirako und Kalarites sind durch eine Schlucht getrennt. (Fotos: GZ/lg) Die zwei Gebirgsdörfer Sirako und Kalarites sind durch eine Schlucht getrennt. (Fotos: GZ/lg)

Der Lohn der abenteuerlichen Fahrt in die Gebirgsdörfer Sirako und Kalarites im imposanten Pindos-Gebirge kann sich buchstäblich sehen lassen. Schneebedeckte Pässe gleißen untertags im Sonnenlicht, nachts leuchten am Himmel Abermillionen Sterne. Und in den wenigen gemütlichen Tavernen schmeckt der Tsipouro-Schnaps besser als nirgendwo sonst.

Von Linda Graf

Fährt man die Bergstraße mit dem Auto ab, beträgt die Entfernung zwischen beiden Dörfern etwa 24 Kilometer. In der Region Epirus im Gemeindegebiet Tzoumerka, nicht weit von Ioannina entfernt, liegen im Pindos Gebirge Sirako und Kalarites – durch die tiefe Schlucht des Chroussias-Flusses getrennt. Von verschiedenen Aussichtspunkten aus erblickt man beide Orte auf den sich gegenüberliegenden  Berghängen gleichzeitig: Sirako an den Hängen des Lakmos in einem rundlich einheitlichen Gefüge und Kalarites mit seinen Steinhäusern die, abgesehen vom Dorfkern, der Länge nach über den Berghang verstreut liegen.

100 Millionen Jahre Geschichte

Syrrako (Συρράκο) ist die ältere, aus dem Albanischen abgeleitete Schreibweise. Die Häuser der Ortschaft haben einen einheitlich graubeigen Farbton und sind aus hiesigem Sedimentgestein erbaut, aus dem sich – vom geologischen Standpunkt her – um die 100 Millionen Jahre Geschichte herauslesen lassen. Die Dächer deckt man in dieser Gebirgsregion in Epirus mit Lagen aus Schiefersteinen – ein wahres Kunsthandwerk, das  obendrauf mit einem zu einem Kegel bearbeiteten Kalkstein gekrönt wird. Im Gegensatz zur  befahrbaren Straße ist der Wanderweg durch die Schlucht von Sirako nach Kalarites nur etwa 4,7 Kilometer lang. Ein Roundtrip mit Hin- und Rückwanderung summiert sich also auf neun  Kilometer. „Wenn ihr zu müde für den Rückweg seid“, sagt der an allen Ecken auftauchende Museumsvorsteher aus Sirako zu uns, „dann ruft ihr an, dann holt euch jemand mit dem Auto ab.“

Sirako3.jpg

Das steingebaute Sirako

Wasserfälle nach Schneeschmelze

Das Pindos-Gebirge ist mit seinem reichen Angebot an gut unterhaltenen und beschrifteten Trails ein Paradies für Wanderfreunde. Vom Ausgangspunkt des Syrrako-Kalarites-Trails führt ein steiler Abstieg auf fachmännisch mit Steinen verstärkten Stufen hinab in die Schlucht. In den Wintermonaten ist der Pfad streckenweise von Wasserfällen, die von der temporär auftretenden Schmelzschnee herrühren, überschwemmt. Mit wasserdichten Schuhen sind jedoch diese kleinen Hindernisse problemlos zu überwinden. Temporär, da die Temperaturen hier selbst in der kalten Jahreszeit hohe Schwankungen aufweisen können. „Vor eurer Ankunft lagen die Temperaturen um den Gefrierpunkt, und es hat geschneit“, sagt Nikos, der uns eine Unterkunft vermietet und immer noch seine Daunenjacke trägt. Kaum vorzustellen, wo es heute doch so warm ist, und ich selbst gegen Mitternacht keine Jacke benötige, als ich den Hund ausführe.

Kalarites1.jpg

Gepflasterter Pfad in Kalarites

Steine in allen möglichen Farben

Unsere Wanderung wird vom Rauschen des Flusses begleitet, dessen schäumend grüne Wassermassen uns unten in der Schlucht mitsamt ihrem Sprühnebel erwarten. Der griechischen Mythologie zufolge geht der Name des Flusses Chroussias, eines Nebenarms des Arachthos, auf den Sohn des Neoptolemos zurück, der in seinen schäumenden Fluten ertrunken ist. Unten in der Schlucht, wo die mit Eisenplatten angefertigte Brücke sich über den Fluss spannt und Sirako mit Kalarites verbindet, befinden wir uns immerhin noch auf einer Höhe von 1.200 Metern. Der höchste Gipfel des Pindos-Gebirges, der Smolika, ragt 2.632 Meter in den Himmel.

Ich kann nicht widerstehen und sammle während der Wanderung einige Steine in meine Tasche ein. Später erfahre ich, dass sich dieses Gestein durch die Kollision tektonischer Platten und durch Phänomene wie dem Aufsteigen des mit Magma und Lava vermischten Erdmantelgesteins aus Längsschichten gebildet hat. Es setzt sich aus schwarzen, grauen, grünen, blauen und goldgelben Farbtönen zusammen. Beim Anblick der Berghänge mit ihren teils vertikal verlaufenden, aufeinander gepressten Gesteinsschichten kann ich mir lebhaft vorstellen, wie die Gesteinsmassen vor Urzeiten einst machtvoll in die Höhe verschoben wurden.

Touristen sind noch Mangelware

Wir verbringen zwei Nächte in Sirako, wo das ganze Dorf zu dieser ruhigen Jahreszeit im Winterschlaf liegt – bis auf unsere Unterkunft und die einzige geöffnete Taverne. Zum Glück haben wir im Voraus gebucht, denn die wenigen zur Verfügung stehenden Zimmer sind jetzt, am Wochenende, alle belegt. Ausländische Touristen sind Anfang März keine hier, wohl aber eine Handvoll Ausflügler und Wanderer aus Ioannina und aus der Gegend um Thessaloniki. Wir laufen uns immer wieder über den Weg – sei es im Nachbardorf, beim Wandern oder abends in der Taverne in Sirako. Nachts muss der Pudel Rudi wieder raus und ich geistere mit ihm durch die menschenleeren Gassen des Orts. Abermillionen Sterne leuchten über uns, auch der Vollmond scheint zum Greifen nah. Um uns herum schimmern die schneebedeckten Pässe in der Dunkelheit auf. Alles ist still.

Straße_nach_Sirako_GRAF.jpg

Auf der Straße nach Sirako mit Blick zum majestätischen Gebirgsmassiv

Verbarrikadierte Fenster und Türen

Am nächsten Morgen beschließen wir, noch einmal Kalarites zu besuchen – diesmal mit dem Auto, nicht über den Wanderweg. Meine persönliche Vorliebe gilt Kalarites, da es nicht wie Sirako bis auf den beinahe letzten Stein renoviert ist. Ich erfreue mich eher an den charmanten Imperfektionen dieses Ortes. In Kalarites sind weniger Häuser instand gesetzt, viele stehen leer, mit verbarrikadierten Fenstern und Türen. In den Innenräumen zwischen den nicht mehr überdachten Hausmauern wachsen Bäume und Gräser. Im Gegensatz zu den meist neu gepflasterten Gassen Sirakos sind die alten Steinwege hier erhalten geblieben. Hier und da schlängelt sich ein Bach zwischen Hausruinen hindurch, die Gassen sind alle untereinander verbunden, die Einwohner können ungehindert von Haus zu Haus.

Überhaupt zeichnet sich die hiesige Struktur der Gebirgsorte durch ihre buchstäbliche Verbundenheit aus: Die in dieser Region verteilten Dörfer sind mehr oder weniger gleich weit voneinander entfernt, nicht länger als einen Tagesmarsch. Bestimmt verbirgt sich hinter diesem Tatbestand ein ganz praktischer Grund: In einem abgelegenen Gebiet wie diesem ist man auf die Hilfe untereinander angewiesen – sei es, weil ein Erdrutsch Probleme verursacht oder Steinlawinen, sei es, weil man durch sonstige unvorhersehbare Naturereignisse von der Außenwelt abgeschnitten ist.

Mezze_in_Kalarites.jpg

Kafenion und Laden zugleich

Warten auf das ofenwarme Gebäck

Beim Auskundschaften stoßen wir mitten im Dorfkern von Kalarites auf einen Laden mit Taverne und Kafenion, oder andersrum: auf ein Kafenion mit Laden. Hier werden wir  draußen freundlichst von auf langen Holzbänken herumlungernden Katzen und drinnen von den Familienmitgliedern empfangen. Wenn wir etwas warten möchten, so die Besitzerin, serviert sie uns frische Pita mit Lauch und Zwiebeln. Sie ist um die siebzig, schätze ich, trägt eine warme Pyjamahose und einen Anorak über ihrer Strickjacke. Ihre Augenbrauen sind aufgemalt und ihr spärliches Haar ist kupferrot gefärbt. Ihr Mann sitzt mit älteren Dorfbewohnern drinnen beim Ofen, er hat einen gezwirbelten Schnurrbart und dichtes schlohweißes Haar. Inmitten des kunterbunten Angebots von Nounou-Milch, Spülmittel und Kartoffelchipstüten bezeugen die schwarzweißen Familienfotos an den Wänden die auffallende Schönheit des Paars in jungen Jahren.

Kalarites3.jpg

Katzenempfang in Kalarites

Wir warten über einem hausgemachten Tsipouro – dem regionalen Zaubertrank – und bei großzügig aufgetafelten kleinen Vorspeisen, den sogenannten mezedes, wie etwa Tomaten-Zwiebelsalat, regionalem Käse, Oliven und olivenölbeträufelten Babykartoffeln, auf das ofenwarme Gebäck.

Nirgendwo schmeckt der Tsipouro besser als hier in Tzoumerka. Wie Samt fühlt er sich in der Kehle an und verbreitet eine nun ebenso benötigte wie wohltuende Wärme in uns. Denn obwohl drinnen ein Feuer im Holzofen glüht, sitzen wir draußen, um dem Naturschauspiel der schnell aufziehenden Wolken zwischen den mit Schneeteppichen bedeckten Bergen beizuwohnen. Im Minutentempo nehmen sie die Gipfel ein, während die Temperatur ebenso schnell sinkt.

In Ponchos gehüllt sind wir in den Anblick der Steindächer und der uns umgebenden Berge versunken, während die Enkelkinder der Laden- und Taverneninhaber um uns herumtollen. Die beiden Mädchen tragen Strickkleider, darüber Anoraks, aus ihren Gummistiefeln, deren Nasen wie Froschmäuler aussehen, ragen dicke Socken bis hinauf zu den Waden. Und nun kommt die Besitzerin mit der dampfenden Pita. Und hintendrein ihr Sohn, der seinen Kindern einen Yoghurteimer mit Essensresten in die Hand drückt: „Auf zu den Hühnern!“, sagt er, und die Kinder rennen los.

Improvisationskünstlerin Natur

Angesichts der Unvorhersehbarkeit der hiesigen Naturelemente muss ich an meine Nervosität während der Fahrt nach Sirako denken, als ich beim Blick in die Tiefe zu meiner Rechten tatsächlich einen Schweißausbruch hatte. Es dämmerte bereits, ich saß – völlig hilflos, wie mir schien – auf dem Beifahrersitz, und mit zunehmender Höhe wurde mir in jeder Haarnadelkurve schwindlig. Auch trugen die teilweise vereisten Straßenpassagen nicht zu meiner Gemütsruhe bei, die zahllosen Schlaglöcher, die breiten Risse im Asphalt und ganze Straßenabschnitte, die nur aus Geröll bestanden, weil Teile abgebrochen und talwärts abgerutscht waren. Jetzt, beim Tsipouro, lachen wir uns ganz ohne Schadenfreude ins Fäustchen, wenn wir daran denken, wie ich mich in den Serpentinen wie gelähmt am Beifahrersitz festklammerte.

Nach oben

 Warenkorb