Die Insel Thassos (griechisch: Θάσος) liegt in der nördlichen Ägäis, genau genommen im Thrakischen Meer. Sie hat eine Fläche von knapp 400 Quadratkilometern. GZ-Autor Jürgen Weidner besuchte diese Insel mit seinem Motorrad.
Seit mindestens 15 Jahren war ich nicht mehr auf dieser wunderschönen grünen Insel in der Nordägäis. Als der Wetterbericht sonnige und warme Tage versprach, fasste ich den Entschluss, dorthin einen Ausflug mit dem Motorrad zu unternehmen. Mit 300 Kilometern ist die Anreise vom Olymp nicht allzu lang. Außerdem ist die Strecke zwischen Thessaloniki und Kavala trotz Autobahnfahrt recht interessant. Über dem Volvi-See hängen noch leichte Nebelschleier, das gegenüberliegende Ufer spiegelt sich in der ruhigen Wasseroberfläche, am Ufer sitzen Möwen, und Reiher stehen in der Morgensonne. Der geringe Verkehr erlaubt es mir, das Schauspiel zu genießen. Nachdem der See hinter mir liegt, taucht bald das Meer auf. Hier sind es Inselchen und Schiffe, die faszinieren.
Von Keramoti mit der Fähre
Mein erstes Etappenziel ist der Hafen von Keramoti, von hier aus pendeln Fähren in kurzen Zeitabständen nach Thassos. Die Insel liegt wie ein riesiger grüner Gesteinsbrocken gegenüber im Meer. Während der kurzen Überfahrt wird das Schiff von Möwen begleitet, die von Passagieren gefüttert werden. In der von der Schiffsschraube aufgewühlten See entdecken sie kleine Fische und stürzen sich auf ihre Beute. Meine Unterkunft habe ich dieses Mal nach eher ungewöhnlichen Kriterien ausgesucht. Da mein DuMont-Reiseführer schon etwas angestaubt und der neuere Baedeker mit nur drei Seiten über Thassos mit Informationen ziemlich geizig ist, habe ich im Internet die Online-Bewertungen von Unterkünften nach Informationswert betrachtet. So stieß ich auf Dimitris; in Beurteilungen werden seine Hilfsbereitschaft und sein Wissen über die Insel gelobt.
Im archäologischen Museum
In seinem Apartmenthaus angekommen, begrüßt mich Dimitris freundlich. Der untersetzte Mann trägt einen Dreitagebart und erzählt mir, dass er Arzt sei – und seine Frau die Polizeichefin der Insel. „Wenn du ein Problem hast, ruf mich an, wir regeln das für dich“, sagt er. Ich bedanke mich, beschließe aber insgeheim, weder medizinisch noch juristisch von dem Angebot Gebrauch zu machen. „Schau dir heute Nachmittag das archäologische Museum an und geh anschließend hoch zum antiken Theater. Von dort aus hast du einen schönen Blick über die Stadt, und nachmittags ist das Licht am besten zum Fotografieren. Lass uns morgen früh über die Insel reden“, meint er und verschwindet. Gesagt, getan. Per pedes erkunde ich Limenas und finde das archäologische Museum. Es wurde 1935 erbaut, später großzügig erweitert und liegt direkt an der antiken Agora. Die Empfangshalle wird von einem gigantischen Kouros, der Statue eines jungen Mannes, dominiert, der auf die Besucher herabschaut. Die Ausstellung führt von der Altsteinzeit bis zur byzantinischen Epoche durch die Funde der Insel. Diese sind thematisch gegliedert und werden professionell über verschiedene Stockwerke und Halbstockwerke präsentiert. Am meisten beeindrucken mich die kleine Marmorplastik von der auf einem Delfin reitenden Aphrodite und der gigantische Kouros. Der Besuch des Museums lohnt sich nicht nur für Freunde der Archäologie, sondern auch für Menschen, die Freude an schönen Kunstwerken haben. In Limenas verschwimmen Antike und Gegenwart. Die Agora, der antike Markt, wird von modernen Wohnhäusern umrahmt. Zwischen Hafen und der Akropolis gelegen, war sie einst das geschäftliche, politische und religiöse Zentrum der Stadt. Anhand der Säulen, Säulenreste und der Grundmauern entsteht in der Fantasie ein Bild der damaligen Gebäude und Arkaden. Von der Agora aus steige ich zum antiken Theater auf. Es wird momentan restauriert und ist daher für Besucher geschlossen. Aber wie von Dimitris versprochen, hat man einen schönen Blick über Limenas, seine Häfen und das Meer.
An der Agora befindet sich das Archäologische Museum.
Informationen aus erster Hand
Bei einem abendlichen Bummel an der Hafenpromenade fallen mir die zahlreichen marmornen Statuen auf. Thassos ist seit dem Altertum bekannt für seinen weißen, hochwertigen Marmor. Er wurde u. a. beim Bau der Tempel der Akropolis in Athen verwendet. Übrigens, wenn Reparaturen am Marmor von antiken Bauwerken oder Kunstwerken vorgenommen werden, darf in Griechenland nur jener gleiche Marmor aus den damaligen Herkunftsorten verwendet werden. Am nächsten Morgen bekomme ich Besuch von Dimitris. Er setzt sich zu mir auf die Terrasse und legt Schreibzeug und eine Karte von Thassos auf den Tisch. „Es gibt hier viel mehr Sehenswürdigkeiten, als du dir in drei Tagen anschauen kannst. Ich werde dir sagen, welche sehenswert sind und welche du nicht besuchen musst. An vielen von ihnen fahren Touristen vorbei, weil sie nichts von ihnen ahnen, andere werden aufgebauscht, obwohl sie nichts Sehenswertes zu bieten haben.“ Wir sitzen uns gegenüber, und Dimitris fährt mit dem Finger auf der Landkarte entlang. Wichtige Orte werden eingekreist und kommentiert, einige Details erklärt er mir, indem er eine Zeichnung anfertigt. Eine Stunde lang dauert die Einweisung, dann bin ich im Bilde.
Ausflug zum „Golden Beach“
Dankend nehme ich die Karte und Zeichnungen an mich, steige aufs Motorrad und verlasse Limenas. Heute möchte ich die Ostküste erkunden und beginne mit dem berühmten Golden Beach. Vorbei an einem gigantischen Marmorsteinbruch führt die Straße zunächst durchs Binnenland. Die Straßen der Insel sind meistens kurvig, in gutem Zustand und bereiten nicht nur Motorradfahrern Freude. Im Ort Panagia angekommen, biege ich nach links ab Richtung Skala Panagias – zum Golden Beach. Man trifft häufig auf weiter im Landesinneren gelegene Orte, von denen es einen Ableger am Meer gibt, dem das Wort Skala (Anlegestelle) oder Ormos (Ankerplatz) vorangestellt ist. Es war den Inselbewohnern früher nicht möglich, ihre Siedlungen am Meer zu errichten, die Überfälle der Piraten waren zu gefährlich. Erst nachdem diese Gefahr gebannt war, trauten sich die Menschen in Meernähe. Der zeitliche Unterschied der Bebauung ist deutlich zu sehen. Natursteinhäuser, oft mit Steinplatten gedeckt in den Bergen, moderne Gebäude am Strand. Der Golden Beach ist einer der bekanntesten Strände von Thassos, im Sommer manchmal überfüllt, momentan ist er menschenleer. Er erstreckt sich zwischen Skala Panagias und Skala Potamias. Das Wasser ist klar und sauber, kleine Wellen plätschern sanft ans Ufer – es riecht nach Meer. Der Sand schimmert wirklich golden in der Sonne. Palmen stehen in den Gärten, Bänke laden zum Verweilen ein. Viele Hotels und Pensionen werden in dieser Jahreszeit erweitert und renoviert, denn in wenigen Tagen erwartet man die ersten Touristen. In Skala Potamia endet der Strand in einem kleinen, malerischen Fischereihafen.
Berühmter Strand an der Ostküste: Der Golden Beach.
Eine Insel zum Geschenk
Weiter geht es nach Süden. Gegenüber dem Strand von Kinyra liegt ein kleines Eiland, die Kinyra-Insel. Sie wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn mir Dimitris nicht eine Geschichte über sie erzählt hätte. Das Inselchen gehört einem Rechtsanwalt aus Limenas. Eine seiner Vorfahrinnen hat einst den Sohn eines osmanischen Paschas genährt. Weil sich der Junge prächtig entwickelte, bekam sie zum Dank dafür die Insel als Geschenk. Obwohl beruflich erfolgreich, sei der Anwalt ein armer Mann, sagt Dimitris – die Steuern, die er für sein Eigentum an den Staat zu zahlen hat, seien immens. Zwar möchte er seinen Besitz gerne verkaufen, findet aber keine Interessenten. Man verzeihe mir, dass ich den bekannten Paradise Beach links liegen lasse, ich fahre direkt nach Aliki. Geformt wie eine Bohne liegt die kleine Halbinsel vor der Küste. Vor dem offenen Meer geschützt, bieten sich zwei kleine Buchten zum Baden an. „Wenn du deine Ruhe haben möchtest, wähle die linke, die nördliche Bucht“, sagte mir Dimitris. „An der rechten Bucht sind Tavernen, laute Musik und viel mehr Menschen.“ Zwischen den beiden Buchten ist eine Ausgrabungsstätte, die sich bis zum Strand zieht. Sehenswert ist hier ein monumentales, römisches Grab. Wieder oben auf der Straße fallen mir Steine im Meer südlich der Halbinsel auf. Hier wurde einst Salz gewonnen, indem man Meerwasser auf die flachen Steine fließen ließ und es am Zurückfließen hinderte. Das Wasser verdunstete mit der Zeit und zurück blieb das begehrte Meersalz.
Die Kinyra-Insel südwestlich vor Thassos.
Text und Fotos von Jürgen Weidner
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 926 am 12. Juni 2024.