Aus einem Telefonat vom 12.Oktober 2020: „Wann kommt das Blut“, fragte Vassilis unser Hausarzt, „vor, mit oder nach dem Urin?“ „Danach!“ war meine Antwort. „Dann kommt das weder von den Nieren noch von der Prostata“ meinte er, „es muss an der Blase liegen. Am kompetentesten sind die Urologen im Sismanoglio. Die haben morgen eine allgemeine Sprechstunde“.
Am folgenden Vormittag fahren wir zu der im Norden von Athen liegenden gewaltigen Krankenanstalt, wo ich die Personen hinter dem Empfangsfenster erstmal mit meinem Namen verwirre, bevor sie mich an medizinisches Personal weiterreichen, an zwei Frauen in Weiß, von denen die eine noch Studentin zu sein scheint. Schließlich befinden wir uns in der urologischen Abteilung der Universität Athen. Nach einer Ultraschallaufnahme werde ich für Freitag, den 16.10. um 9 Uhr zu einer ersten Zystoskopie bestellt.
Eine unerfreuliche Diagnose
Auf die warte ich an jenem Tag bis 11.30 Uhr in einem finsteren Korridor des Erdgeschosses mit vielen anderen Patienten, bis ich in einem größeren Raum auf einen Behandlungstisch hinter einem Vorhang gelegt werde, wo ich dem Geplauder von Pflegerinnen und Ärzten ausgesetzt bin, bis ich zu frieren beginne. Dann wird in Bauchhöhe eine Trennwand aufgebaut und jemand macht sich an meinem Glied zu schaffen. Ich spüre, wie eine Sonde eingeführt wird und empfinde einen heftigen Schmerz. Wenige Minuten später wird der Vorhang zurückgezogen und jemand hilft mir von der Bahre. Ich werde in ein Büro geführt, wo ich erstmals den behandelnden Arzt Kostas Livadas zu sehen bekomme. Sein Assistent Petropoulos nimmt neben ihm stehend Platz. Livadas, der zu verstehen gibt, dass er etwas Deutsch kann, erklärt in knappen Worten, dass er einen Tumor in der Blase festgestellt habe, der durch einen operativen Eingriff entfernt werden müsse. Dieser würde ähnlich verlaufen wie die Zystoskopie, nur mit einer örtlichen Betäubung. Ich müsse dann allerdings ein oder zwei Tage in die Klinik zur Beobachtung. Auf meine Frage, wer die Operation durchführen würde, kam die Antwort: „Ich, nur ich!“ Ich gebe ihm meine Telefonnummer, er gibt mir die seine, gegen Ende des Monats werde er sich melden. Ich solle inzwischen eine Triplex Untersuchung vornehmen lassen, aus Vorsicht wegen meines fortgeschrittenen Alters, meinte er.
Warten auf den chirurgischen Eingriff
Zwei Wochen später ergibt ein Anruf bei Livadas, dass der Eingriff um eine Woche verschoben sei; zusätzlich kam die Nachricht, dass ich zuerst den Covid 19 Test absolvieren müsse. Mein Fall war mitten in die Corona Krise geraten. Am 5.11. kam ein Anruf von Livadas, dass die Bereitstellung eines Bettes noch Schwierigkeiten bereite, Aufschub um einen weiteren Tag. Am Tag vor dem Covid-Lockdown erhalte ich die Aufnahme in die Klinik. Nach Blutabnahme, Urinanalyse, Elektroenzephalogramm, Röntgenbild des Brustkorbs und des Unterleibs erfolgt die Einweisung in das Zimmer 7 der urologischen Abteilung. Da saß ich dann zwei Stunden auf meinem Bett, bis ein Arzt kam und mir mitteilte, dass ich nun nach Hause fahren könne, aber am Sonntag um 9 Uhr auf meinem Zimmer erwartet werde zu einem Gespräch mit einem Anästhesisten. Am Montag werde operiert. Statt des Narkosearztes kam am Sonntag aber eine Assistentin, die mir mitteilte, dass ich vor dem Eingriff noch eine kardiologische vierundzwanzigstündige Messung mit dem Holter absolvieren müsse und dass ich über Nacht nichts essen dürfe, aber reichlich Wasser trinken solle. Im Übrigen erklärte sie mir, dass die Messung mit dem Holter am nächsten Morgen vorgenommen würde, vorausgesetzt dass eines der drei vorhandenen Geräte verfügbar sei. Der chirurgische Eingriff sei erst möglich, wenn das Ergebnis dieser Messung zur Verfügung stehe.
Hühnchen und ungesalzenes Püree
Geduldsprobe! So geht es bis zum 12.11. meist mit reduzierter Speisenzufuhr, d.h. Hühnchen mit ungesalzenem Püree. Das Dienstpersonal nimmt seine Tätigkeit auf. Eine der Putzfrauen erzählt mir von ihrer Heimat Albanien, wohin sie zurückkehren wolle, wenn diese Tätigkeit hier zu Ende sei. Ein neuer Patient wird eingewiesen, seine Nierensteine müssen entfernt werden. Mit Unterstützung seiner Frau richtet er sich in einem der freien Betten ein. Allmählich nimmt bei mir die Spannung zu und steigert sich, als die angekündigte Zeit für die Operation bereits erheblich überschritten ist. Gegen halb eins schieben zwei Männer unversehens eine Bahre ins Zimmer. Ich muss mich nackt ausziehen und werde durch die unendlichen Korridore in einen anderen Flügel der Anstalt in das hochmoderne Chirurgie Zentrum gefahren. Ich werde für die Operation hergerichtet. Die Anästhesistin setzt eine Spritze in die Wirbelsäule, im Unterleib schwindet das Gefühl. Den Eingriff beobachte ich auf einem Bildschirm über mir. Um 13.45 Uhr bin ich wieder auf meinem Zimmer und werde an verschiedene Tropfs angeschlossen, die mich dann nachts beim Schlaf behindern. Eine bezahlte Nachtschwester aus Georgien hat sich auf einem Stuhl niedergelassen. Um die Mittagszeit des nächsten Tages werden die Medikamente eingestellt und der Katheder aus der Harnröhre gezogen. Nach insgesamt sieben Tagen im Sismanoglio werde ich entlassen.
„Den pirázi“: „Macht nichts“
Mit dieser Prozedur war nur der erste Teil eines mehrjährigen Verfahrens abgeschlossen. Es folgten insgesamt sechs weitere Zystoskopien, gefolgt von zwölf Infusionen mit dem Medikament BCG. Das hieß immer wieder mehrstündiges Warten im finsteren Korridor des Krankenhauses, bevor die jeweilige Untersuchung oder Therapie stattfinden konnte. So sah das am 22. Oktober 2022 aus:
Anruf bei Livadas, ich solle am Montag zur Blasenspiegelung kommen. Ich bin um 9 Uhr dort, komme aber erst um 14 Uhr raus. Livadas kam wie immer erst um 11 Uhr in die Abteilung. Das Vorgehen dort ist meist nicht durchschaubar. Für Außenstehende ist es unmöglich, die Struktur dieser Sprechstunde zu verstehen. Als ich dann auf dem Behandlungstisch lag und wie meistens zu frieren begann, war ich den Streitereien der Ärzte und Pfleger ausgesetzt durchbrochen von den Schmerzensschreien der Person, die auf dem kopfseitigen Bett behandelt wurde. Am Ende musste ich pinkeln und konnte es nicht bis zu Toilette halten. Δεν πειράζει – „den pirázi“ / „macht nichts“ – sagte die Schwester.
Am 26. Mai 2025 gab es eine letzte Zystoskopie. Bei der Abschlussbesprechung steht eine junge Ärztin neben Livadas. Mit meinen 91 Jahren meinte er, sei ich nun mehr oder weniger aus der Gefahrenzone. Er empfehle allenfalls eine Röntgenaufnahme, falls ich das Gefühl habe, dass sich in der Blase etwas geändert habe.
Nun war es an mir, mich für die fünf Jahre perfekter medizinischer Betreuung zu bedanken. In der Tat war es ein ungeheures Privileg, während des gesamten Verfahrens in einer öffentlichen griechischen Krankenanstalt vom selben Arzt behandelt zu werden, zu dem ich jederzeit telefonischen Zugang hatte und nicht um Termine betteln musste. Und das alles während einer Zeit, in der das griechische Gesundheitswesen wegen der Corona Epidemie ohnehin äußerster Herausforderung ausgesetzt war.
Hubert Eichheim