Kaum ein Indikator verdeutlicht die Folgen der griechischen Wirtschaftskrise so deutlich wie der Mindestlohn. Sieben Jahre, von 2012 bis 2019, war dieser auf 586,08 Euro eingefroren. Das entspricht 3,39 Euro pro Stunde bei allerdings 14 Monatsgehältern.
Für Menschen unterhalb von 25 Jahren galt sogar ein sogenannter „Sub-Minimum Lohn“ von 510 Euro, der erst 2019 abgeschafft wurde. In Deutschland lag der Mindestlohn 2012 bei 8,19 Euro pro Stunde und stieg bis 2019 auf 9,19 Euro. Auch das Durchschnittseinkommen der Griechen ging deutlich zurück von 23.100 Euro im Jahr 2008 auf 17.900 Euro im Jahr 2012. Und der Anteil der Bevölkerung mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze stieg in dieser Zeit auf 36 % an. Bis 2022 erreichte der Mindestlohn nicht wieder das Niveau von kurz vor der Finanzkrise. In jüngerer Zeit gab es jedoch Besserung. Fünfmal, von 2019 bis 2025, stieg der Mindestlohn, und liegt im Jahr 2025 bei 880 Euro.
Die SPD-nahe Friedrich Ebert Stiftung nun hat in einer Studie die Systeme zur Festlegung des gesetzlichen Mindestlohns in Griechenland, Frankreich und Deutschland miteinander verglichen. Die Studie bescheinigt Griechenland deutliche Fortschritte bei der gesetzlichen Regelung des Mindestlohns. Um die EU-Richtlinie 2022/2041 zum Mindestlohn umzusetzen, wurde eine Reform in Angriff genommen, die am 1.1.2028 in Kraft treten soll. Das neue System ist am französischen Modell angelehnt, und sieht eine automatische Anpassung des Mindestlohns anhand der Summe von zwei Indikatoren vor:
Die Erste Maßgröße sind die Verbraucherpreise der unteren 20 Prozent. Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs sind hier höher gewichtet als weniger grundlegende Dinge. Zweitens wird „die Hälfte der jährlichen Veränderungsrate der Kaufkraft des allgemeinen Lohnindexes“ berücksichtigt. Dieser Indikator misst, wie sich die Kaufkraft der durchschnittlichen Löhne innerhalb eines Jahres verändert. Führt dieser Koeffizient zu einer Senkung des Mindestlohns, so erfolgt keine Anpassung. Die Studie identifiziert die durch das algorithmische Modell geschaffene Transparenz und Objektivität als einen wesentlichen Vorteil. Die Fähigkeit des Modells, auf wirtschaftliche Bedingungen wie die Inflation zu reagieren, wird ebenfalls positiv hervorgehoben.
Negativ wird gesehen, dass die Ermittlung des Mindestlohns auf Daten beruht, die erst in Zukunft von der griechischen statistischen Behörde (ELSTAT) erhoben werden müssen, was die Umsetzung gefährde. Zudem seien noch nicht alle verbindlichen Kriterien der EU-Richtlinie berücksichtigt worden. Bei der Adaption des französischen Modells für die Festlegung des Mindestlohns seien zudem besonders für die Arbeitnehmerseite günstige Regelungen nicht übernommen worden – so etwa die Möglichkeit der Regierung, den Mindestlohn über das vom Algorithmus bestimmte Niveau anzuheben.
Die Autoren der Studie haben zudem Zweifel daran, ob das griechische Modell die Vorgaben des Artikels 7 der betreffenden EU-Richtlinie erfüllt, wonach die Beteiligung der Sozialpartner wesentlich, rechtzeitig und wirksam sein muss. In dieser Hinsicht sei das deutsche Modell ein gutes Beispiel. Hier bestimmt die Mindestlohnkommission, bestehend aus je drei Vertretern von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite sowie einem unabhängigen dritten mit Stimmrecht, über die Anpassung des Mindestlohns. Nach Auffassung der Autoren ließe sich diese Vorgehensweise besser mit der historischen griechischen Tradition des Respekts vor kollektiver Autonomie vereinbaren als eine automatische Festlegung durch einen Koeffizienten. Ob das neue System tatsächlich zu mehr Fairness und Stabilität führt – oder die Mitbestimmung der Sozialpartner schwächt – wird sich spätestens zeigen, wenn die Reform 2028 in Kraft tritt. (Griechenland Zeitung / Tristan Lenk)