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Facettenreiche Deutungen des rastlosen Seefahrers

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Foto (© Griechenland Zeitung / Klaus Bötig): Am Strand von Dexa setzten die Phäaken Odysseus ab. Foto (© Griechenland Zeitung / Klaus Bötig): Am Strand von Dexa setzten die Phäaken Odysseus ab.

Heutige Station unseres literarischen Inselhüpfens ist Ithaka, die Heimat des sagenhaften Odysseus. Der homerische Held, seine Gattin Penelope und sein Sohn Telemachos haben Autoren aller Epochen und in vielen Ländern zu immer neuen Interpretationen und Fortsetzungen inspiriert – und vor allem auch zur Kritik am Heldenmythos ermuntert. Mit dem Ithaka von heute beschäftigt sich hingegen kein Autor, auch für Krimis ist kein Platz.

Wer das Original lesen will, greift zu Homer und liest die Odyssee ab dem 13. Gesang oder lässt sich die entsprechenden Zeilen als Hörbuch vortragen. Wer das Ganze lieber in Prosa lesen will, greift zur Odyssee-Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt. Eine verkürzte Zusammenfassung mit Interpretation aus anthroposophischer Sicht liefert Leendert Frederik Carel Mees in Helena und Penelope – Der Weg des Menschen im Bild der griechischen Mythologie. Das erste deutschsprachige Werk, das auf Ithaka spielt, stammt bereits aus dem Jahr 1550. Der Nürnberger Meistersinger und Schumacher Hans Sachs schrieb schon wenige Jahre, nachdem die Odyssee überhaupt erstmals ins Deutsche übersetzt worden war, sein Bühnenstück Die Irrfahrt Ulissi. Vor allem die Heimkehr des Helden wird dargestellt. Sein spätmittelalterliches Deutsch ist zwar etwas mühsam zu lesen, aber durchaus auch ohne Wörterbuch verständlich. Es ist schön zu sehen, welches Bild des antiken Seefahrers den Handwerkern des Mittelalters gezeichnet wurde.

Die Dominanz der Antihelden

Die Autoren des 20. Jahrhunderts haben hingegen allesamt die Helden der Odyssee von ihren überhöhten homerischen Sockeln gestürzt und sind dabei äußerst phantasievoll vorgegangen. Das sprachlich schönste und literarisch anspruchsvollste Werk ist dabei wohl Die Frauen von Ithaka des ungarischen Autors Sándor Márai. Die Lektüre seines Buches gerät zu einem intellektuellen Vergnügen, bei dem der Geist oft mehr als schmunzelt. Umso mehr, je besser er sich in der griechischen Mythologie auskennt. Odysseus ist nach Ithaka heimgekehrt, hat die Freier und einige der Dienerinnen der Penelope ermordet, ist wieder fortgezogen und schließlich noch einmal heimgekehrt, um selbst ermordet zu werden. Im Ersten Gesang schildert seine Gattin Penelope ihre Erlebnisse und ihre Gedanken über den Helden. Im zweiten Gesang kommt sein Sohn Telemachos zu Wort, der für seine Recherchen über den Vater auch Nausikaa auf Korfu und die Nymphe Kalypso auf ihrer Insel besucht. Der dritte Gesang ist dann Telegonos vorbehalten, dem Mörder des rastlosen Seefahrers und zweiten Ehemann seiner Penelope. Alle drei Hauptkapitel sind spannungsreich trotz spärlicher Handlung. Aber man ist stets auf neue auf überraschende Wendungen und Formulierungen gespannt, stets fasziniert von überschäumender Phantasie und Sprachwitz. Auch der zentrale Gedanke von Márais Odyssee-Interpretation ist schlüssig. Er sieht das Zeitalter des Odysseus als eins, in dem ein neuer Vertrag zwischen Göttern und Menschen in Vorbereitung ist, der den Menschen (also auch uns) eine öde und langweilige Zeit bringen wird: Die Zeit des Gesetzes (S. 329/330).

Antiker Held auf Korfu

Aus dem gleichen Jahrzehnt wie Márais Werk stammt die 1956 erschienene Erzählung Der sechste Gesang von Ernst Schnabel. Sprachlich ist dieser deutsche Autor sehr viel mehr seiner Zeit verhaftet als der zeitlos schreibende Ungar. Der Reiz dieses Büchleins liegt darin, dass es sich auf das Geschehen in eben jenem Gesang konzentriert, in dem sich Odysseus auf Korfu aufhält. Homer tritt als gerade erblindender Dichter sogar selbst auf und spricht mit Odysseus. Auch echte News erfährt man. So erhält Circe auf Seite 85 vom erfinderischen Dädalus das erste Marionettentheater der Welt geschenkt. „Drei Stücke für Marionettentheater“ von Circe füllen die Seiten 87 bis 111 und bringen auch Minos mit ins Geschehen.
Während man für die beiden bisher vorgestellten Werke schon einige Grundkenntnisse des homerischen Epos haben sollte, um sie interessiert lesen zu können, benötigt man für Eine ganz gewöhnliche Ehe von Inge Merkel keinerlei mythologische Grundkenntnisse. Man kann diesen eine ganze Urlaubswoche ausfüllenden Roman auch dann mit viel Vergnügen lesen, wenn einem der Mythos ziemlich schnuppe ist. Er zeichnet das facettenreiche Porträt einer im Grunde zeitlosen Frau, wie es nur einer weiblichen Autorin gelingen kann. Grandios ist etwa die lange Beschreibung der Geburt des Telemachos aus Sicht der gebärenden Mutter. Der Titel des Romans ist jedoch etwas irreführend: Eine ganz gewöhnliche Ehe führen Odysseus und Penelope nämlich nicht – die beiden sprechen sehr viel miteinander, vor allem im Bett.

Lektüre für linke Leser

Der einzige auf Deutsch vorliegende Roman eines griechischen Autors zum Thema ist Das Tagebuch der Penelope des marxistischen Literaten Kostas Varnalis. In seiner 1946 erschienenen Erzählung herrscht Penelope in Abwesenheit des Odysseus mit strenger Faust über Ithaka, knechtet das Volk und beutet es aus. Den Freiern gegenüber ist sie keineswegs prüde. Sie probiert jeden der 50 Bewerber in 50 aufeinander folgenden Nächten unerkannt im Schlafgemach ihrer Lieblingsdienerin aus. Sie weiß, dass Odysseus tot ist, verbündet sich aber dennoch mit einem nach Ithaka kommenden Pseudo-Odysseus, der in Wahrheit ein einst als Schwein geborener Übermensch ist. Mit ihm träumt sie von einem Groß-Ithaka mit ihr als Alleinherrscherin. Viele Freunde hat sich der Autor mit seinem Werk in Griechenland nicht gemacht. So schreibt etwa Linos Politis in seiner 1984 auf Deutsch erschienenen Geschichte der Neugriechischen Literatur: „Lyrische Stimmung und poetische Phantasie treten stark in den Hintergrund, es bleiben nur nackt und abstoßend der Wille des Dichters zur Zersetzung und die Hässlichkeit der Helden“. So ist das Buch wohl nur für eher linke Leser eine gute Lektüre. Auf jeden Fall ist es exzellent geschrieben und enthält durchaus Spuren von Poesie und bissiger Satire.

Eine Odyssee in Raum und Zeit

Für nimmersatte Odysseus-Fans gibt es schließlich noch den 1964 erschienenen Bericht des Telemachos aus der Feder von Hans Christian Kirsch. Schauplatz der absurden Erzählung ist eine Insel bei Delos (wahrscheinlich Mykonos, wo Teile des Buches entstanden). Kenntnisse der Odyssee sind für die Lektüre von Nutzen. Erzählt wird von einem um 1910 geborenen Odysseus aus Smyrna, verheiratet mit einer Penelope aus Trapezunt. Nach Ithaka kam er als junger Erwachsener mit seinen Eltern, die aus Smyrna vertrieben worden waren und nun auf Ithaka Baumwolle anpflanzen wollten. Zugleich ist dieser zeitgenössische Odysseus auch der homerische Held, auf den die antike Göttin Athene immer noch ein schützendes (Eulen-) Auge wirft. Die Menschen um ihn herum verehren antike Götter, aber auch christliche Popen kommen vor. Die Handlung spielt wohl um 1960, Onassis und Maria Callas sind nach Kenntnis des Odysseus schon getrennt. Der griechische Feldzug in Anatolien Anfang der 1920er Jahre verschmilzt mit dem Trojanischen Krieg, Raum und Zeit sind aus den Fugen. Das macht den literarischen Reiz dieses Buches aus, in dem Odysseus eigentlich nichts anderes will, als endlich ein Niemand zu sein.

Schlussfrage: Was bringt es nun, all diese Romane gelesen zu haben? Auf jeden Fall hat man viele neue Facetten des imaginären Helden und seiner Angehörigen kennengelernt. Und vielleicht erkennt man jetzt Aspekte von Odysseus und Penelope in sich selbst wieder.

Klaus Bötig

 

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