Ein ungeplanter Umweg führt unseren Autor Jürgen Weidner zu einem für ihn bislang unbekannten Ort: Auf einer Fahrt mit seinem Motorrad zum archäologischen Museum in Veria entdeckt er Serviá nahe dem Stausee Polyfitou. Diese über 1.000 Jahre alte Anlage wurde auch als das „Mistras von Makedonien“ bezeichnet.
Eigentlich hatte ich vor, das archäologische Museum in Veria zu besuchen. Anstatt einfach die Autobahn zu nehmen, überquerte ich aber den Olymp und fuhr dann auf der Landstraße von Elassona in Richtung Kozani. Macht mit dem Motorrad einfach mehr Spaß! Am Örtchen Servia nahe des Stausees Polyfytou weist ein Schild, das mir bisher noch nicht aufgefallen war, auf die lokale byzantinische Burg hin. Kurzentschlossen bremse ich, wende die Maschine und fahre in den Ort hinein. An einer Taverne frage ich den Wirt, ob ich hier noch richtig bin. „Fahr einfach die Straße weiter hoch, dann kommst du zur Burg“, sagt er. Die Straße wirkt mittelalterlich und ist mit groben Steinen gepflastert. Im ersten Gang geht es durch enge Kurven steil hinauf. Am Wegesrand stehen einige Kapellen, hie und da sind Mauerreste zu sehen.
Vor 1.000 Jahren errichtet
An den Ruinen einer Basilika parke ich und genieße den Ausblick in die mächtige Servia-Schlucht und auf den Stausee im Tal. Hier wird der Aliakmonas, der längste Fluss Griechenlands, gestaut. Ich entriegele das Tor der Basilika, die vor rund 1.000 Jahren gebaut und vom 12. bis zum 16. Jahrhundert des Öfteren renoviert wurde. Eine Zeitlang fungierte sie als Bischofskirche, verlor aber an Bedeutung, als der Bischof 1745 seine Diözese von Servia nach Kozani verlegte. Archäologen entdeckten in der Basilika drei bemalte Schichten Verputz; einige Wandmalereien konnten restauriert werden, die jedoch ohne Schutz dem Verfall preisgegeben sind. Nachdem ich mich eine Weile umgesehen habe, gehe ich unter einem Torbogen hindurch und beobachte eine Schildkröte, die energisch die Blätter einer Pflanze abreißt und frisst. Dann fahre wieder zurück zur Taverne. Mir ist jetzt nach Kaffee. Und Wasser.
Basilika mit Resten der Wandmalereien
Malerischer Weg am Felsen
Ich komme mit Nikos, dem Wirt, ins Gespräch. Er fragt mich, ob mir die Burg gefallen habe. „Es ist ja nur noch eine Basilika übrig“, antworte ich ihm. „Warst du nicht ganz oben? Auf der Zitadelle?“, fragt er mich. „Ähm, nein.“ Peinlich. „Setzt dich erst mal, ich mache dir einen Frappé, sagt Nikos und hat gleich noch einen Tipp für mich bereit: „Bevor du hochfährst, würde ich an deiner Stelle die Servia-Schlucht besuchen. Direkt hinter dem Restaurant führt ein bequemer Weg dorthin. Noch hast du Schatten. Und vorher schau auch mal in die Kapelle dort drüben rein.“ Der nach den Heiligen Agioi Anargyroi benannte Bau aus dem 11. oder 12. Jahrhundert grenzt direkt an die Taverne an. Im Inneren ist es angenehm dämmrig und kühl. Die Wandmalereien wurden 1510 angebracht. Nach einem kurzen Aufenthalt im Kirchlein spaziere ich in die Schlucht hinein. Ein sorgfältig mit Platten ausgelegter Weg führt an den Felsen entlang. Ein massives Geländer schafft Vertrauen – wobei … Hie und da ist selbst dieses Geländer beschädigt, was auf gelegentlichen Steinschlag hindeutet. Entlang des rund 700 Meter langen Pfades ragen immer wieder einzelne Felsen gen Himmel, denen die Einheimischen Namen gegeben haben: Marmorner König heißt einer, Bischof oder Bär ein anderer.
Wandelndes Geschichtsbuch
Wieder zurück in der Taverne frage ich Nikos, ob er denn etwas über die Geschichte der Burganlage wisse. „Ich kann dir dazu nicht viel sagen“, meint er, „aber unten im Ort lebt Chrysanthi Karagianidou; sie war Professorin und ist jetzt pensioniert. Sie ist unser wandelndes Geschichtsbuch. Warte, ich melde dich gleich bei ihr an“, meint er und greift zum Telefon. Die Fahrt zum Gemeindezentrum im Ort führt mich an der Akropolis (Oberstadt) vorbei. Hier wohnten einst der Herrscher der Burg, der Heerführer und sein Gesinde. Die gesamte Anlage wirkt recht überschaubar und war einst von hohen Mauern eingefasst. Vier Wehrtürme dienten der Verteidigung. Gut erkennbar sind auch quadratische Öffnungen in den Turmgemäuern, wo einst Balken ruhten, die die Dielen der Zwischendecken trugen. Immer wieder sind Mauerreste kleiner Gebäude zu sehen. Erst kürzlich wurden Restaurierungen durchgeführt, und einer der Türme wurde wieder aufgebaut.
Zeugen der Vergangenheit
Im Gemeindezentrum treffe ich dann auf Frau Chrysanthi – eine nette, aufgeschlossene, ältere Dame. Ich müsse mir das alte Servia als eine dreigeteilte Siedlung vorstellen, klärt sie mich auf. Es handele sich um die einzige Stadt in Westmakedonien, die von einer Festung beschützt worden sei, ergänzt sie. Nicht umsonst werde die Anlage auch als „Mistras von Makedonien“ bezeichnet. Über der Stadt thronte auf einer Fläche von 2.500 Quadratmetern die Akropolis. Darunter wohnten in einem ersten Ring auf ca. 20.000 Quadratmetern Adlige, der Klerus und Krieger. Unterhalb umschloss der zweite Ring den Hügel, der von der unteren Mauer und Wehrtürmen geschützt wurde. Hier war auf rund 75.000 Quadratmetern das einfache Volk angesiedelt. Die Anfänge der Stadt reichen ins sechste Jahrhundert, und sie blickt auf eine wechselhafte Geschichte mit unterschiedlichen Fremdherrschaften zurück. Schlussendlich nahmen die Osmanen 1393 das alte Servia ein und herrschten über 500 Jahre, bis der Ort 1910 von der griechischen Armee befreit wurde. Um nicht von den anrückenden Osmanen gefasst zu werden, waren im 14. Jahrhundert der König und der Bischof in die nahe gelegene Schlucht geflohen, heißt es. Und dort seien sie zu Stein erstarrt. Der Mythos besagt, dass sie erst wieder zum Leben erwachen würden, wenn die Unrechtsherrschaft ihr Ende findet. Mal sehen. Im Zweiten Weltkrieg jedenfalls waren Truppen der Alliierten in der Festung untergebracht, die daraufhin 1943 von der deutschen Wehrmacht bombardiert und beschossen wurde.
Das Gefühl, willkommen sein
Chrysanthi Karagianidou zeigt mir zum Abschluss meines Besuches noch einige Bücher über die Geschichte des Dorfes, über die Naturschönheiten der Region und die Sehenswürdigkeiten. „Das hier ist das einzige Exemplar in englischer Sprache, das ich habe“, sagt sie und drückt mir ein Buch in die Hand. Sie fügt hinzu: „Das möchte ich gerne wieder haben. Wenn Sie das nächste Mal kommen, führe ich Sie auf die Akropolis, und wir schauen uns einige der kleinen Kirchen an.“ Wir verständigen uns auf einen Termin im Herbst. Ich verabschiede mich von der zierlichen Dame mit dem schönen Gefühl, hier willkommen zu sein.
Text und Fotos von Jürgen Weidner
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 936 am 28. August 2024.