In einer Region ohne Autoverkehr unterwegs sein – was gibt es Schöneres für einen Wanderer? Zum Beispiel auf einer autofreien Insel. Es stinkt nichts, es rast und knattert nichts, hupende Rabauken sind nicht in Sicht. Nehmen wir Hydra, in knapp anderthalb Stunden mit dem Schnellboot von Piräus aus zu erreichen.
Der Hafenort öffnet sich wie ein Amphitheater, viele Fischerboote dümpeln (und ja, auch diverse Yachten mit Yuppies und anderen verspiegelten Figuren). Auf dem Kai Esel und Maultiere in langer Reihe. Eine andere Welt: frische Luft, Ruhe, Stille, Entschleunigung. Entspannung pur. Eine wohltuende Gelassenheit liegt über dieser Insel. Wachstum und Zersiedlung ist hier untersagt, Natur und Tiere werden geachtet. Und die Wanderwege sind bestens markiert, gut gepflegt, häufig mit Natursteinen befestigt. Am Wegesrand (Stein-)Bänke zum Rasten. Wir wählen zunächst den Höhenweg entlang des Steilufers, Richtung Südwesten. Vor sechs Jahren wurde dieser vorbildliche Uferweg angelegt: Tagsüber wandert man streckenweise geschützt unter Pinien, am Abend schweift der Blick dann in die Ferne, zum Sonnenuntergang und auf die Bergketten der Peleponnes. Ein Panorama wie aus dem Bilderbuch.
Esel warten geduldig auf Aufträge
Von Katzen bis Cohen
Auf dem Natursteinmäuerchen am Wegesrand: Schalen mit Wasser für die herumschlendernden oder faulenzenden Katzen und Trockenfutter. Ja, auch die Katzen sind etwas Besonderes auf Hydra. Oft fülliger als anderswo, behäbiger, selten jammernd. Sie werden versorgt. Man kümmert sich um sie. Es gibt extra Herbergen und Futterplätze. Und damit die Population überschaubar bleibt, werden Katzen und Kater auf Hydra sterilisiert und kastriert. Nach rund zwanzig Minuten gelangt man an eine der hässlichsten Bänke unter dem Sternenhimmel. Auf der Gedenktafel von 2017 steht ein Zitat von Leonard Cohen, das diese Anlage aufs Schönste ironisch kommentiert: „He came so far for beauty“ // „Er kam so weit für die Schönheit“. Ihm zu Ehren hatte seine Fangemeinde schon zu Lebzeiten dieses Steingebilde errichten lassen. Höflich wie er war, schickte Cohen ein freundliches, aber wenig aussagekräftiges Grußwort. Immerhin können von dieser Steinbank nun die glühendsten Sonnenuntergänge erlebt werden, die sich denken lassen.
Treffpunkt von Künstlern
Fünfzehn Minuten später erreicht man Kaminia, eine hübsche Ortschaft im Blütenmeer: Oleander, Bougainvilleen, Wandelröschen, Geranien … Oberhalb des Wanderwegs sollte man sich ruhig etwas durch die Gassen der stillen Ortschaft treiben lassen. Kaminia war ehemals berühmt wegen des Wohnsitzes von Nikos Hadjikyriakos-Ghikas (1906-1994), einem kubistischen Maler. Seit den 1930er Jahren war das mondäne Anwesen der künstlerische Treffpunkt auf der Insel. Henry Miller war zu Gast, Norman Mailer, Walter Gropius, der deutsche Architekt, auch Giorgos Seferis oder Patrick Leigh Fermor. Henry Miller reiste 1939 mit dem späteren griechischen Nobelpreisträger Giorgos Seferis nach Hydra. In seinem Griechenlandbuch „Der Koloss von Maroussi“ schwärmte Miller von der „ästhetisch perfekten“ Stadt von Hydra und er pries „diese Reinheit und wilde und nackte Vollkommenheit“ der Insel. Zum Anwesen von Ghikas schreibt Henry Miller: „Es hat vierzig Räume und die größten davon wirken wie der Salon eines Ozeandampfers“, trunken hätten sie von der orientalisch wirkenden Terrasse aufs Meer geblickt. Seferis verewigte die Insel in einem eigenen Gedicht. „So bitter the sea for your soul at one time“ // „So bitter wirkt das Meer für deine Seele auf einmal“, heißt es darin und dann: „now full of colours under the sun“ // „jetzt voller Farben unter der Sonne“. Im Winter 1954/55 war der Reiseschriftsteller Patrick Leigh Fermor zu Gast und verfasste dort große Teile seines „Mani“-Manuskripts. Drei Jahre später bedankt er sich im Vorwort seiner Reiseschilderung, „daß ich in dem wundervollen Haus auf Hydra wohnen durfte, wo dieses Buch zum größten Teil entstanden ist“, und er schwärmt von „einer weißen Terrasse auf der Insel Hydra“. Das märchenhafte Anwesen brannte 1961 ab, die Ruine ist in der Ferne auf der Anhöhe auszumachen. Im Flussbett eine Taverne, am Ufer eine zweite, einige Schritte weiter eine dritte, direkt am Wegesrand. Dieser Wirt hat in seiner Speisekarte die alten Preise einfach überklebt (also erhöht) und verlangt sogar einen Mindestpreis für den Gesamtverzehr. Also weiter. An verschiedenen Badestellen vorbei gelangt man nach rund dreißig Minuten über eine pittoresk geschwungene Steinbrücke zur Ortschaft Vlychos. Vor der ersten Taverne stehen Sonnenschirme und Strandliegen bereit, unter dem Kalamiadach der zweiten Taverne hat man einen atemberaubenden Blick über das Meer. Hier rasten wir, bis die Sonne ihren Höchststand überwunden hat. Tzatziki, keftedákia (bestens gewürzte Fleischbällchen), saganaki tiri – alles zu zivilen Preisen.
Pittoreske Brücke vor Vlychos
Das Haus des Troubadours
Auf dem Rückweg zum Hafenort wählen wir den Weg durchs Inselinnere. Auch dieser ist gut beschildert und bequem in einer knappen Stunde bis zum Hafenort zurückzulegen. Schatten gibt es auf dieser Strecke freilich keinen. Nun schaut man von oben auf Kaminia, kommt direkt an der Ruine des Künstleranwesens vorbei und kann schließlich im Hafenort zur Gasse mit Leonard Cohens Haus finden. Wie sich längst herumgesprochen hat, begann für Leonard Cohen auf Hydra sein Traum eines freien Lebens. Hier verfasste er seine ersten Texte als Schriftsteller, von hier brach er auf, um eine Weltkarriere als Troubadour und Heiligengestalt für verträumte, sensible, depressive Gemüter zu starten. „I have tried in my way to be free“ fasste Cohen es 1969 in seinen Song „Like a bird on the wire“ zusammen. Im April 1960 war Leonard Cohen nach Hydra gekommen, im September kaufte er ein Haus auf der Anhöhe, mitten im Dorf. 1.500 Dollar kostete es, eine Erbschaft seiner Großmutter half. Das Haus ist längst zur Wallfahrtsstätte für Fans und Freunde geworden. Es ist nicht bloß ein Häuschen, wie es häufig heißt, sondern ein recht stattliches Anwesen. Drei Etagen, Garten, Terrasse, Blick zum Meer. Die Gasse zum Haus hat mittlerweile Cohens Namen erhalten. Weiße Schrift auf blauem Untergrund. Der Krämerladen wenige Schritte entfernt, an der Ecke zuvor, ist prall gefüllt mit Waren des täglichen Bedarfs wie zu früheren Zeiten, ein kleines Wunderland. Hier oben, mitten im Dorf, gibt es keinen modernen Supermarkt. Und über rund zweihundert flachen Stufen hat man den Hafen dann wieder erreicht.
Der Autor an der Pforte von Cohens Haus
Alter Hafenort und Ziegenpfade
Am nächsten Tag wandern wir vom Hafenort zur anderen Seite entlang des Meers, Richtung Osten. Am drehenden Strahlenkranz des Sonnengebildes von Jeff Koons vorbei zum alten Militärhafen aus Zeiten der Revolution, Mandraki. Der Strand dort sei der einzige Sandstrand auf Hydra, heißt es. Doch leider ist er vollends vom „Mandraki Beach Resort“ verbaut. Als Wanderer hat man Mühe, einen freien Platz zwischen den Strandbauten der „luxurious 5 star“-Anlage zu bekommen. Das scheint nicht ganz im Sinne der neuen Bestimmungen des griechischen Staats zu sein: Freier Zugang zum Meer soll garantiert sein. Hier wird man scheel angeschaut oder gar vertrieben, gibt man sich nicht als zahlender Gast zu erkennen ... Am Ende der Bucht besichtigen wir noch einen letzten Rest der ehemaligen Befestigungsanlage. Zurück wählen wir den Höhenweg durch das Inselinnere. An der kleinen Kirche von Stavros vorbei, in wild zerklüfteter Landschaft, auf schmalen Ziegenpfaden, über Stufen, alles gut zu begehen und bestens beschildert. Rund sieben Kilometer und zweieinhalb Stunden sind für diese zweite Tagestour einzuplanen. Am Ende der etwas anstrengenden Wanderung über die Anhöhen wird man mit atemberaubenden Ausblicken auf den Ort Hydra und den Hafen belohnt.
Jeff Koons Sonne
Wanderung zu Klöstern
Am dritten Tag brechen wir zu den Klöstern Agios Efpraxias und Agios Konstantinos auf. Auf historischen Fotografien aus den 1960er Jahren hatten wir Leonard Cohen gesehen, wie er im Eseltreck nach oben geschaukelt worden war. Wir verlassen uns auf unsere Füße. Die Weggabelung am Ortsausgang ist zu finden, nur die Häuser am Rand sind etwas verändert, ein Umspannwerk ist dazu gekommen. Auch von Cohens Besichtigung in den Klosterhöfen sind Fotos vorhanden. Uns machte bei unserem Besuch im Mai leider niemand auf, man sollte sich vorher wohl anmelden. Rund anderthalb Stunden benötigten wir für den steilen Aufstieg. Weite Strecken geht man im Schatten, unter Pinien auf dem Wanderweg, in Serpentinen immer höher, diverse Steinbänke laden zum Rasten ein. Mietet man einen Esel für den Ritt bergan, soll am Ende ein Klosterbesuch angeblich automatisch dazu gehören, wurde uns gesagt.
Genügsame Traumlandbewohner
Ist man einmal in Schwung gekommen und der erste Muskelkater abgeklungen, kann man sich auch zu längeren Wanderungen aufraffen. Ein Wanderweg ist mit 12,5 Kilometern ausgewiesen, viereinhalb Stunden werden für die Strecke bis zum Kloster Zourva berechnet. Um dann noch weiter bis zum Ende der Insel im Osten zu wandern und zum Leuchtturm von Zourva zu gelangen, sind weitere fünf Kilometer und knapp fünfhundert Höhenmeter zu überwinden. Das ist dann also nur etwas für unerschrockene Frühaufsteher oder jene, die es lieben, im Freien zu übernachten. Es gibt aber auch den Tipp, an der Steilküste die Stufen zum kleinen Hafen Ledeza zu nehmen und sich von dort mit einem See-Taxi nach Hydra-Ort zurückbringen zu lassen. Alle Wege sind gut ausgeschildert, alle gepflegt und vor allem: nirgendwo ein Auto oder Motorrad, das lärmt. Stille und das Zwitschern von Vögeln, das Glöckeln wilder Ziegen in der Natur, die Ausblicke in die Ferne, die Überraschungen an jeder Wegbiegung.
Sehnsucht nach Rückkehr
Legt man nach einer Woche von Hydra wieder ab und landet erneut im lärmenden Athen, ist die Sehnsucht nach Rückkehr umgehend befeuert. „I have tried in my way to be free“, sang Cohen einst und brachte damit das Lebensgefühl auf Hydra zum Ausdruck. Bis heute darf auf dieser wunderlichen Insel nur dort gebaut werden, wo einst etwas stand, wo Fundamente noch vorhanden sind, eine Ruine zu restaurieren ist. Und wenn dann gebaut wird, sollte dies im historischen Stil geschehen. Zersiedelung ist auf Hydra also ausgeschlossen. So genügsam können Traumlandbewohner sein. Es muss, selbst in heutigen Zeiten des Massentourismus, nicht immer um ungebremstes Wachstum und Zerstörung alter Strukturen und archaischer Landschaften gehen. Dazu passt: Plastikstühle gibt es auf Hydra auch nicht und Reklame bestenfalls in kleinen Portionen. Einen Hauch dieser Gelassenheit kann jeder Besucher spüren, wenn er sich treiben lässt und in eine andere Zeit hineinfindet.
Text und Fotos von Stefan Berkholz
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 944 am 23. Oktober 2024.