Login RSS

Die Insel Ios wirbt mit Stränden und dem „Urvater der Epik“

  • geschrieben von 
Chora, der Hauptort der steinigen und einprägsamen Insel Chora, der Hauptort der steinigen und einprägsamen Insel

Die Kykladeninsel Ios lockt jeden Sommer mehr Besucher an ihre Strände. Bierbusse, Pub-Touren und eine Vielzahl von Diskotheken und Clubs sorgen für gute Stimmung. Ios wirbt aber auch damit, Grabstätte Homers zu sein: Hier soll der größte Epiker aller Zeiten ruhen – ganz bestimmt, vielleicht oder auch nicht.

Ios HomersThomb CR TomBusch DSC 0060
Grabstätte für „den geheiligten Kopf“ des gottreichen Homer

Mit der Fähre ist man geschwind auf Ios. Die Kykladeninsel wurde anfänglich von Siedlern aus Kleinasien bewohnt. 1100 v. Chr. kamen erst Dorier, dann die Ionier, die ihr den Namen Ios gaben. Die Insel trat dem Attischen Seebund bei, der im 5. Jahrhundert v, Chr. gegründet wurde und dessen Bündnismitglieder auch auf Delos tagten. Seitdem gingen 2500 Jahre ins Land. Mit dem Tourismus der Jetzt-Zeit ziehen jeden Sommer mehr Besucher an Ios’ Strände. Bierbusse, Pub-Touren und eine Vielzahl von Diskotheken und Clubs sorgen für gute Stimmung, bei zumeist jungen, englischsprachigen Feriengästen.

Ios KoumbaraBeach CR TomBusch 181246
Entspannen am Koumbara Beach

Letzte Lebenstage auf Ios

Doch Ios’ Image wandelt sich, und Homer tut dabei sein Bestes – noch aus dem Grabe heraus. Wo der größte Epiker aller Zeiten ruht, schläft man doch nicht den ganzen Tag seinen Rausch auf der Sonnenliege aus, nicht wahr? Kultur hält länger vor und mitunter sogar für ewig. Also auf zum Dichter – wenn es ihn denn gegeben hat. Fest steht, dass der größte Epiker aller Zeiten, wenn er wirklich existierte, in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts respektive in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr, gelebt hat. Und auch das: Er soll seine letzten Lebenstage auf Ios, der Geburtsinsel seiner Mutter, verbracht haben. An der Nordspitze wurde sogar eine Art Grabstätte errichtet. Der Weg dorthin weist hinauf in den Norden. Wir passieren Kambos, das fruchtbarste Gebiet der sonst trockenen Insel. Rechterhand ziehen sich kreisförmig Steinmauern einen Hügel hinauf. Hier erstreckt sich Skarkos, um etwa 2700 v. Chr. angelegt und heute eine der größeren und noch gut erhaltenen Siedlungen der frühkykladischen Keros-Syros-Kultur. Im Bronzezeitalter sollen hier um die 200 Menschen gelebt haben. Heute hat Kambos 57 Einwohner. Im Hauptort Ios sind circa 1.700 Einheimische ansässig. Um eine weitere Absiedlung der Insel zu verhindern, fördert die EU Infrastrukturprojekte und damit auch den Bau von Straßen.

Ein Skelett zu Staub zerfallen

Eine davon führt gut ausgebaut zu Homer. Sie schlängelt sich ab Kambos in ausladenden Kurven nordwärts, vorbei an einem Eyecatcher-Quartett: Vor einem hoch aufragenden Steinabbruch stehen vier imposante moderne Skulpturen am Wegesrand. Dann öffnet sich die Straße zu einem Rondeau, und Marmorstelen verkünden: „An dieser Stelle deckt die Erde den geheiligten Kopf des Führers des gottreichen Homer“, Herodots Worte aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. zitierend. Auch der griechische Gelehrte Pausanias wusste später zu berichten, dass hier das Grab des Homers liegt, und nahebei jenes von Klymenes, der Mutter Homers. Sogar drei Gräber existieren hier. Das vermeintliche Grab des Dichters wurde 1960 markiert. Ein Steinplattenpfad leitet den Besucher auf den letzten Hügel der Nordspitze hin zu einem Geviert: Weiße Marmorquader erheben sich zwischen dem Himmelsblau und der Ägäis. Hochkant und quer angeordnet formen sie die Gedenkstätte. In der Ferne zieht über die Ägäis eine Fähre mit leuchtend blauem Stern auf dem gelben Schornstein. Linkerhand erstreckt sich Paros, vor uns Iraklia und dahinter Naxos. Ein Summen liegt über den Macchia-Büschen. Was für ein friedlicher Ort, der den Reisenden verweilen lässt. Ob Homer hier tatsächlich ruht, wird dabei ganz nebensächlich. Der holländische Adlige Graf Paasch van Krienen, unterwegs von 1769 bis 1775 auf der Russischen Archipelago-Expedition im Mittelmeerraum, öffnete jedenfalls hier ein Grab im Jahr 1771. In diesem Moment sei das Skelett zu Staub zerfallen. Und so bleibt die Ruhestätte des größten Epikers aller Zeiten ohne festen Beweis nur eine Legende. Aber wie soll Homer selbst gesagt haben: Das Grab sei sowieso nicht der Ort, an dem die Toten sind. Wenn er gelebt hat, dann wohnt er in seinen Worten. Wir klauben bunte Steine vom Boden auf. Und so wie Hunderte Besucher es vor uns taten setzen auch wir einen Homerischen Andachtsturm zusammen. Unsere Ehrensäule ist sieben Steine hoch. Hunderte kleine und große grazile Monumente aus Glimmerschiefer, Marmor und Quarzit bilden des Dichters Garten an der Nordspitze von Ios. Es wäre ein schöner Platz für seine Seele.

Reich an Geschichte und … Steinen

Ios ist reich an Steinen. Gebirgig erstreckt sich die Insel 15 Kilometer in die Länge und erhebt sich mit dem Pyrgos auf 700 Höhenmeter. An der Ostküste sitzt auf knapp 300 Meter das Palaiokastro, 1397 erbaut von Markos I. Crispo, dem damaligen venezianischen Verwalter von Ios. Ein kleiner Pfad aus Marmor- und Granitsteinen führt bis dorthin. Ios hatte so einige Herrscher. Bis 1508 im Besitz der Nachfahren von Crispo, dann der Pisani-Familie, wurde die Insel 1537 von den Osmanen erobert. 1832 wurde dann die griechische Flagge gehisst. Heute wehen hier oben am Palaiokastro ganze Flaggenwimpel-Leinen: Der Platz der Panagia Paliokastritissa wirkt meditativ: eine weiße Kirche, weiße Sitzbänke, ein Olivenbaum. Jeden September feiert man hier oben das Fest der Jungfrau Maria mit Olivenzweigen, Brot und Musik. Die eingekehrte Ruhe im Geist reist mit hinab bis zu den Stränden der Insel, nach Agia Theodoti, nach Psathi, Koumbara und zum Doppelhalbmond-Strand von Manganari. Sie begleitet uns noch abends durch die Gassen der Chora und hinauf auf eine Terrasse oberhalb der großen Bucht von Paralia Gialos am Haupthafen, wo uns Homers Worte wieder einholen: „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung“, umranden seine Verse den Swimmingpool eines bekannten Hotels, „vieler Menschen Städte gesehen, Sitte gelernt hat und auf dem Meere so viele unnennbare Leiden erduldet.“ Mit dem Anruf der Muse beginnt der erste Gesang der Odyssee, deren Verfasser der antike Dichter sein soll.

Ios Paleokastro Church Panagia Paleokastritsa CR TomBusch DSC 0112
Die Kirche Panagia Paleokastritsa

Homer war eine Frau

Oder war es vielleicht die Muse selbst, die all dies niederschrieb – war Homer eine Frau? Der britische Kulturhistoriker und Sprachwissenschaftler Andrew Dalby behauptet kühn genau das und stellte seine These in seinem Buch „Rediscovering Homer“ vor. Hinter Homer soll sich die Ehefrau eines griechischen Adligen verbergen – eine Madame Homer, i kyría Ómiros. In der Kulturgeschichte wären es immer die Frauen gewesen, die Geschichten, Lieder und Volkssagen über Generationen weitergegeben haben. Bereits der byzantinische Gelehrte Eustathius von Thessaloniki, Diakon an der Hagia Sophia, berichtet von einer antiken Theorie, in der beide Epen von einer ägyptischen Priesterin namens Phantasia verfasst wurden. Das klingt wahrhaft phantastisch, doch es stimmt: Immer wieder besetzen Autoren Homers Person mit einer Frau, wie in den Büchern „Authoress of the Odyssey“ oder „Homers Tochter“. Andrew Dalby, Absolvent der University of Cambridge, setzt auf Indizien: So würden die Figuren der Helena und der Andromache in der Ilias und der Penelope in der Odyssee gravierend für eine weibliche Urheberschaft sprechen. Sein Kollege Anthony Snodgrass, ein klassischer Archäologe der University of Oxford, der intensiv zum frühen Griechenland geforscht hat, widerspricht: Die Idee eines weiblichen Homer sei zu weit hergeholt, mit der Begründung, eine Frau hätte sich beim Verfassen der Ilias „zu Tode gelangweilt“. Ist das wahr? Ach Homer. So bleibt das Ende unbestimmt – und etwas verschwommen wie der heute leicht dunstige Sonnenuntergang über der Hafenbucht von Ios.

Fragen an Homer

Lieber Herr Homer, Du stellst uns bedeutende Fragen – ja, bedeutend mehr Fragen als Antworten zu geben. Ist es richtig, dass die hehren Gesänge der Ilias ein Jugendwerk sind, während die Odyssee der gewonnenen Reife des Alters entstammt? Sag selbst, hast Du sicher beide dieser bedeutenden Dichtungen der abendländischen Kulturgeschichte verfasst – oder doch nur eines. Oder eventuell gar keines davon? Und bedeutete Dein Name Homer einst „Gatte“ – oder vielmehr „Geisel“?
Das Wort soll zweierlei Sinn ergeben, und zugegeben, mitunter liegt das eine nicht weit vom anderen. Wenn aber Dein Name von „ὁ μὴ ὁρῶν” (ho mē horōn / der nicht Sehende) abgeleitet wurde – dann aufgrund einer tatsächlichen oder angedichteten Blindheit? Manche Ehemänner stellen sich ja gern taub; möglicherweise hattest Du es deinem Weibe gegenüber bevorzugt, einfach blind zu sein. Warst Du denn verheiratet? Hattest Du auch Kinder gezeugt und woher kamst Du? Smyrna, Athen, Pylos, Argos und die Inseln Chios und Ithaka reklamieren jede für sich, des Homers Geburtsstätte zu sein. Aber gesichert ist nichts – weder Geburtsort noch -datum. Die Homerische Frage lässt so vieles im Ungewissen, wie auch dies: Warst Du einer oder mehrere? Ja Homer, gab es Dich überhaupt?

Text: Carolyn Martin
Fotos: Tom Busch

Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 977 am 25. Juni 2025.

Nach oben

 Warenkorb