Es gibt Olivenöl in griechischen Speisen, und es gibt gesegnetes Olivenöl. Selbst wenn man nicht religiös eingestellt ist oder mit alten, heidnischen Bräuchen nichts am Hut hat: Einige Phänomene, bis auf den heutigen Tag Bestandsteile der griechischen Alltagskultur, sind doch bemerkenswert. In fast allen Dörfern gibt es Xematiástres – Frauen, die gesegnetes Olivenöl gegen den „bösen Blick“ einzusetzen wissen.
Der Brauch wird von alters her ausschließlich von Frauen kultiviert und von Generation zu Generation weitergegeben. Man könnte meinen, dass solche Rituale mit den Groß- und mit den Urgroßmüttern in Vergessenheit geraten, doch dies ist nicht der Fall. Als ein Engländer und gemeinsamer Freund bei einem Spaziergang über anhaltende Kopfschmerzen klagt, vertraut die 34-jährige Eleni mir an, dass sie bei ihm das Ritual zur Abwendung des bösen Blicks angewandt habe. Die Frau ist pragmatisch veranlagt, berufstätig, und steht mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern voll im Leben. Ich habe mir Frauen, die derartige Rituale ausführen, eigentlich anders vorgestellt. Eleni aber integriert den Brauch, der ihr großmütterlicherseits überliefert wurde und mit dem sie bereits ihre beiden Töchter vertraut gemacht hat, ohne viel Aufhebens – wie eine selbstverständliche Gepflogenheit –, in den Alltag. „Man wendet ihn bei Kindern an, wenn sie heftige Kopfschmerzen haben“, erklärt sie mir, „und bei Erwachsenen, die an plötzlichen, starken Schmerzen leiden, oder denen Missgeschicke widerfahren.“ Elenis Ritual sieht so aus: Das Olivenöl, vom örtlichen Priester gesegnet, lässt sie langsam in einen Esslöffel rinnen. Dabei betet sie und bekreuzigt sich mehrmals. Der betroffenen Person wird das Öl anschließend eingeflößt, wobei man mit den Fingern ein Kreuz auf ihre Stirn zeichnet. Es gibt kleine Varianten bei der Ausführung – je nachdem, wie man die Handlung als Mädchen erlernt hat. Bei Kindern und Erwachsenen, die das Öl nicht pur zu sich nehmen möchten, wird es in einem Glas mit Wasser verdünnt. Für Verwandte und Betroffene, die im Ausland sind oder fernab leben, oder, wie in Stephens Fall, nicht bei der Ausführung zugegen sind, vollzieht sie das Ritual und segnet die Abwesenden quasi telepathisch. Allerdings, betont Eleni, müsse man zuvor die Person um ihr Einverständnis bitten. „Und, wie hat Stephen darauf reagiert?“ – „Ω καλά“, schmunzelt sie, „er hat es mir nicht abschlagen können!“ Am Flughafen von Athen wurde ich übrigens höchstpersönlich von einem Priester aus Patras mit Olivenöl gesegnet! Wir saßen uns im Gate nach Zürich gegenüber. Der παπάς/papás, groß und schwer, mit einem üppigen, grauen Bart, war sichtlich aufgeregt, rutschte auf seinem Sitzplatz hin und her und sah immer wieder zur Abflugliste hinüber. Als ich ihn ansprach, übergoss er mich mit einem Redeschwall: Er fliege nach Thessaloniki, er sei aus Patras, dies sei die erste Flugreise in seinem Leben! Ich erklärte ihm die Funktion der Liste mit den Abflügen und wies ihn darauf hin, dass er sich am Gate nach Zürich befinde, sich jedoch baldmöglichst zum Gate nach Thessaloniki begeben müsse. Seine Begeisterung über meine Hilfestellung brachte er zum Ausdruck, indem er laut auflachte und sich wiederholt auf die Knie schlug: Ohne meine Hilfe wäre er nach Zürich geflogen! Und griff in die Falten seines schwarzen Priestergewands, holte im Handumdrehen ein Fläschchen hervor, schraubte es auf und trug mit einer flinken Geste etwas von seinem Inhalt auf mein wohl sehr erstauntes Gesicht auf. Beim Betasten der öligen Stellen erklärte eine griechische Passagierin mir lächelnd, dass der Priester mich mit Öl gesegnet habe. Jedenfalls brachte der παπάς viele Passagiere im Gate nach Zürich zum Lachen. Auch, weil er von allen am lautesten lachte! (Griechenland Zeitung / Linda Graf)