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Die historische Bedeutung einer unbekannten Insel

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Die Präfektin der Nordägäis Christiana Kalogyrou im Soldatenfriedhof Moudros. (© Griechenland Zeitung / Marianthi Milona) Die Präfektin der Nordägäis Christiana Kalogyrou im Soldatenfriedhof Moudros. (© Griechenland Zeitung / Marianthi Milona)

Was in Gottes Namen hast du auf Limnos verloren? – Diese Frage stellte ich mir selbst noch in dem Moment, als ich aus der kleinen Propellermaschine auf dem Flughafen von Limnos ausstieg. Mit dem alten „Hermes“, meinem fünftürigen Oldtimer-Toyota, erschien mir die Anreise von Thessaloniki zu beschwerlich. Da keine Fähre mehr von dort nach Limnos unterwegs ist, hätte ich auf der Autobahn Richtung Osten bis Alexandroupolis fahren und dann noch sechs weitere Stunden auf der Fähre ausharren müssen. Für den viertägigen Kongress, an dem ich auf Limnos teilnehmen wollte, erschien mir die Anreise mit dem Pkw somit völlig sinnlos.

Der Vertrag von Moudros

Den Grund meiner ersten Limnos-Reise empfand ich selbst als außergewöhnlich. Denn ich wuchs zu einer Zeit auf, wo man gegen die Kriege auf der Welt noch groß demonstrierte. Als Studentin habe ich Friedensbewegungen unterstützt. „Make Love, not War“, war ein Slogan, der in meinen Kreisen oft zu vernehmen war. Und jetzt, viele Jahre später, nahm ich also aus beruflichen Gründen an einem Kongress teil, der vom Ersten Weltkrieg in Südosteuropa handelte. Den Organisatoren ging es vor allem darum, die Ereignisse dieser Zeit in der Nordägäis für heute so interessant wie möglich aufzubereiten, sodass Gäste aus aller Welt neugierig werden und Limnos auch aus diesem Grund besuchen kamen. Wer weiß denn heute noch, dass an einer der schönsten Buchten Griechenlands, wo man heute idyllisch in einer Taverne essen und griechische Vorspeisen genießen kann, am 30. Oktober 1918 auf dem Kriegsschiff „HMS Agamemnon“ der Royal Navy das Kriegsende zwischen den Osmanen und der Entente besiegelt wurde? Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was nur elf Tage später im Wald von Compiegne bei Paris folgen sollte. Am 11. November 1918 endete dort für das deutsche Kaiserreich der Erste Weltkrieg. Zum 100. Gedenktag des „Waffenstillstands von Moudros“ feiert Limnos das ganze Jahr 2018 mit zahlreichen Zusammenkünften und Veranstaltungen dieses historische Weltereignis.

Freunde der ANZAC

Mit der Teilnahme an diesem Kongress betrat ich jedenfalls thematisches Neuland. Allerdings war ich gespannt darauf, denn Stelios Mantzaris hatte mich eingeladen, seines Zeichens Präsident des Hotelierverbands auf Limnos und Präsident der „Limnosfreunde der Anzac“. Hätten Sie mich vor ein paar Monaten gefragt, was die Anzac sind, ich hätte mit Sicherheit nur den Kopf geschüttelt. Das „Australian New Zealand Army Corps“ ist ein weltweit anerkannter Verein, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Soldaten bei der „Schlacht von Gallipoli“ im Jahr 1915 (darunter viele Australier und Neuseeländer) zu ehren und ihrer zu gedenken. Bei uns ist sie als „Schlacht der Dardanellen“ bekannt, bei der allein auf der Seite der Alliierten 50.000 Soldaten starben und 130.000 verwundet wurden. Ungefähr genauso viele waren die Verluste auf osmanischer Seite gewesen. Das Ungewöhnliche dabei: Viele dieser getöteten Soldaten wurden auf Limnos beigesetzt. Neben dem Gedenken gilt die Pflege der großen Soldatenfriedhöfe der Insel bis heute als einer der großen Aufgabenbereiche der ANZAC. Auch die Verwundeten wurden seinerzeit auf Limnos versorgt, weil es dort das einzige Krankenhaus weit und breit gegeben hat. So hatte Stelios Mantzaris im Jahr 2014 die Idee, den Verein der „Freunde der Anzac“ zu gründen, dem inzwischen viele namhafte Persönlichkeiten aus der ganzen Welt beigetreten sind. „Natürlich sollte dabei die Geschichte von Limnos in den Vordergrund gestellt werden, um dieser nordägäischen Insel endlich die Stellung zu geben, die sie verdient“, erklärt Stelios Mantzaris mit stolzer Stimme. Und er hat als Nichtlimniote etwas für seine Lieblingsinsel geschaffen, wonach andere Inseln seit Jahren verzweifelt suchen: Er sorgte für einen inseleigenen Brandname. Für Mantzaris ist Limnos die wichtigste griechische Insel für die Zeit des Ersten Weltkriegs. Damit hat der, von der nordgriechischen Kleinstadt Drama stammende Grieche, eine Marktstrategie entwickelt, mit der Limnos auch der Kategorie „stratiotikos tourismos“ (militärischer Tourismus) zugeordnet werden kann.

 

Auf dem Friedhof von Moudros ruhen Soldaten aus dem gesammten Commenwealth 1 SMALL

Besuch auf den Friedhöfen

Um dieses Konzept noch mehr zu betonen, wird auch eine Kranzniederlegung am größten Soldatenfriedhof von Moudros organisiert. Noch bevor wir das Friedhofsgelände betreten, sind die Psalmengesänge des lokalen orthodoxen Priesters zu hören, der bereits auf dem Gelände auf uns wartet. Hinter dem Friedhofstor eröffnet sich dem Betrachter ein großes Grundstück mit Gedenksteinen, die zwischen kleinen Blumenbeeten und Sträuchern sichtbar werden. In Moudros liegen über 800 Soldaten begraben. Kurze Zeit später marschieren griechische Soldaten in Marschschritt über das Gelände. Auch heute noch sind auf Limnos aufgrund der Nähe zur Türkei viele griechische Soldaten stationiert. „Ist das die griechische Nationalhymne?“, höre ich eine nordeuropäische Touristin fragen, als alle auf einmal zu singen beginnen. Ihr griechischer Reiseleiter bejaht dies. Die fremde Reisegruppe hat die seltene Gelegenheit, bei einer Kranzniederlegung dabei zu sein. Mit großen Augen staunen die fremden Gäste über die militärischen Salutschüsse. Die Bedeuetung der Veranstaltung unterstreicht die Anwesenheit des Generalleutnants der griechischen Streitkräfte Kostantinos Floros, der Landkreisvorsitzenden der Nordägäis Christiana Kalogyrou und des Bürgermeisters von Limnos, Dimitrios Marinakis. Auch andere fremde Gäste, die zufällig am Friedhof von Moudros vorbeikommen, sind vom Spektakel überrascht und stellen Fragen. Sie wollen mehr von der Geschichte des Friedhofs hören. Sehenswert sei auch der Friedhof von Portianou, erklärt ihnen der anwesende Reiseleiter. Fast auf gleicher Höhe mit Moudros, allerdings auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht, liegt Portianou etwas stiller und inmitten der bis in den Sommer hinein blühenden Landschaft. Die Vögel zwitschern und der Wind sorgt ständig für Erfrischung. Professor Sir Hew Strachan, Historiker und Experte für den Ersten Weltkrieg an der Universität St. Andrew in Schottland zeigt auch mir einige Grabsteine, auf denen sogar Frauennamen eingraviert sind. „Es handelt sich um ehemalige Krankenschwestern, die auf Limnos gedient haben“, erklärt er. Und dann lesen wir sogar einen türkischen Namen. „Das muss ein osmanischer Christ gewesen sein, der im Friedhof von Portianou die letzte Ruhe gefunden hat“, erläutert der Professor.

 

Der Grabstein im Friedhof von Portianou gehört einer Krankenschwester 1 SMALL

Förderung für Moudros

Unterstützung erhielt Stelios Mantzaris für sein Vorhaben nicht allein von lokalen griechischen Organisationen. Auch das Europäische Parlament, die griechische Nationalkommission der UNESCO, der Landkreis der Nordägäis, die griechische Fremdenverkehrszentrale und die griechischen Streitkräfte haben geholfen. Der Kongress sollte einmal mehr symbolisieren, dass auch das griechische Verteidigungsministerium ehemalige Kriegsschauplätze zur Entwicklung einer zukünftigen Friedenskultur gutheißt. Die junge Generation der Historiker, die beim griechischen Militär heute tätig ist, berichtet zudem von dem großen Fundus ihres historischen Archivs in Athen, der noch darauf wartet aufgearbeitet zu werden. Viele Geschichten des Ersten und Zweiten Weltkriegs lägen darin noch verborgen.

Drei aus Thessaloniki

Von den zahlreichen Wissenschaftlern auf Limnos sind drei aus Thessaloniki angereist. Vlassis Vlassidis und Stratos Dordanas sind Dozenten in der Balkanabteilung der Makedonia Universität. Beide beschäftigen sich mit der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs in Griechenland. Vlassis Vlassidis hat zudem wichtige Forschungsarbeit in Bezug auf deutsche Soldaten betrieben. Er hat die Namen von unbekannten deutschen Soldaten, die in Limnos beigesetzt wurden, aber heute im Soldatenfriedhof im attischen Rapendoza ruhen, identifizieren können. Die jüngste Forscherin im Team ist die Doktorandin Despina Charitou. Sie berichtete beim Kongress von vergessenen Festungen und Schützengräben des Ersten Weltkriegs am Stadtrand Thessalonikis. „Militärischer Tourismus“ hätte auch in Thessaloniki einige Sehenswürdigkeiten vorzuweisen“, sagt die junge Forscherin, während Dordanas und Vlassidis kopfnickend zustimmen. Die Thessalonicher Historiker sind von dem Erfolg eines solchen Vorhabens für ganz Griechenland überzeugt. – Wenn man sich für Geschichte im Urlaub interessiert, ist ein Besuch der Insel Limnos von unschätzbarem Wert. Das ist mir nach den vier Kongress-Tagen klar geworden. Neben den Gedenkstätten für den Ersten Weltkrieg lockt auch noch das Seefahrtsmuseum von Moudros zu einem Besuch.
Zu Beginn meiner Limnos-Reise mag ich vielleicht nicht so genau gewusst haben, was ich dort wollte, doch ich weiß jetzt, warum ich ganz bestimmt wieder zur Insel des Feuergottes Hephaistos reisen werde.

Text & Fotos: Marianthi Milona

Diese Reportage ist aus dem Archiv und erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 633 am 27. Juni 2018.

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