Nur einen Katzensprung von griechischen Metropole entfernt liegt die Kleininsel Agistri. Wohl weil klassische Sehenswürdigkeiten fehlen, geht es auf dem Eiland gemächlicher zu als auf der deutlich turbulenteren Nachbarinsel Ägina.
Eine knappe Stunde dauert die Überfahrt mit der schnellen Katamaran-Fähre von Piräus über den Saronischen Golf nach Agistri. Schon wenige Minuten nach der Ankunft zeigt der Blick auf den Bus-Fahrplan am Hafen: Diese Insel lebt noch weit weg vom Massentourismus in ihrem eigenen Rhythmus. Nur viermal am Tag fährt der alte Inselbus in der Nebensaison von Dragonera Beach nach Skala. Es sind keine acht Kilometer an der Nordküste der gesamten Insel entlang.
Am sichelförmigen Sandstrand
Knapp 20 Gäste wollen an diesem Mittag vom Fährhafen in Megalochori nach Skala gefahren werden. In dem kleinen Ort bieten ein paar dutzend Pensionen und Familien-Hotels Zimmer an. Griechische Gäste, die sich für ein verlängertes Wochenende eine Wohnung auf Agistri gemietet haben, liegen am sichelförmigen Sandstrand des Ortes neben Urlaubern aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden. Auch Reisende aus Israel sind Stammgäste. Anne Katrin Fabian aus dem schwäbischen Asperg hat sich für eine Insel-Woche mit ihrem Ehemann Dieter ganz bewusst das kleine, ruhige Agistri ausgesucht: „Wir können hier täglich unsere Spazierrunde drehen, ohne das Gefühl zu haben, wir würden etwas verpassen – herrlich !“ Sie schwärmt von den kleinen Schönheiten am Wegesrand, die es zu entdecken gilt – spielende Katzenkinder, orchideenähnliche Pflanzen, die zwischen Steinen wachsen, wunderbare Ausblicke auf die Nachbarinseln. Außerdem lobt die Urlauberin aus Süddeutschland den hausgemachten Orangenkuchen, den sie sich mehrmals besorgt hat. Ihr Mann ergänzt: „Die unaufdringliche Freundlichkeit unserer Gastgeber-Familie im kleinen Hotel war sehr angenehm. Und das, obwohl sie eine lange, anstrengende Saison hinter sich haben.“ Er würde jedem Reisenden die ruhige Oktober-Zeit für einen Insel-Besuch empfehlen. Das Meerwasser, so erzählen es die Inselbewohner, soll zwischen Ägina und der kleinen Nachbarinsel Agistri besonders klar sein. Bei auffrischendem Wind wirkt die Küste vor dem Ort Skala sofort wilder und noch ursprünglicher – vor allem an den langen Küstenabschnitten, wo weder Bar- noch Hotelbesitzer Liegen und Sonnenschirme aufgestellt haben. Eine einzige, schmale Straße windet sich südlich von Skala über die dort felsigere Küste und führt zur paradiesisch gefärbten Bucht von Chalkiada. Die Straße endet an den letzten kleinen Hotels und Tavernen. E-Bikes und Scooter parken am Ende der asphaltierten Strecke – dann führt ein Fußweg durch ein Pinienwäldchen mit frisch-grünen Nadeln, die die ersten spätsommerlichen Regenfälle wieder üppiger und fast so saftig wie im Pilion sprießen lassen.
Bikini, Badehose, Nacktbader
Vor allem jüngere Menschen sieht man an späten Vormittagen durch diese prächtige Landschaft wandern – bepackt mit Badetüchern und leichtem Proviant für ihren Tag in der Bucht von Chalkiada. Die letzten 100 Meter sind beschwerlich, zehn Meter tief ist der Abschnitt, den die Badegäste auf allen Vieren und mit größter Vorsicht hinabklettern müssen. Unten angekommen ist das sanfte Rauschen des Meeres in der Bucht und das rhythmische Klackern der großen Kieselsteine in der Brandung zu hören. Ein Klang, der wunderbare Stunden mit kristallklarem Wasser und den einen oder anderen Schnorchel-Gang begleitet. Fast automatisch werden die Gespräche leise und bedächtig – Nacktbader fühlen sich an diesem abgelegenen Ort besonders wohl. Besucher in Bikini und Badehose liegen bunt verteilt zwischen den Nacktbadern, einige Zeltplanen sind aufgespannt, um vor der auch im Oktober noch kräftigen Mittagssonne zu schützen.
Besonders schöne Kieselsteine werden bestaunt und fotografiert, einige türkis-gelb gestreifte Fische mit und ohne Taucherbrille bewundert. Die Bucht von Chalkiada ist nicht die einzige mit Kieselsteinen, die das Meer so besonders bezaubernd wirken lässt. Es sind nur wenige Kilometer mit dem Fahrrad, die auf Agistri bis zur nächsten Traumbucht liegen. Die Insel hat nur wenige klassische Sehenswürdigkeiten zu bieten – die Kirche Agii Anargiri von Skala mit ihrer großen Kuppel gilt als imposantes Wahrzeichen. In einem kleinen Museum im Hafenort Megalochori sind einige Ausgrabungen der Insel zu besichtigen. Anziehend ist dieses kleine Eiland, rund 40 Kilometer Luftlinie von Athen, vor allem wegen des ruhigen Insellebens zwischen Kafenion, Dorftavernen und wenigen kleinen Läden.
Kapernblätter auf den Salattellern
Die fehlenden klassischen Sehenswürdigkeiten dürften mit ein Grund dafür sein, dass auf der deutlich turbulenteren Nachbarinsel Ägina die Zeit auf Agistri gemächlicher zu vergehen scheint. Ein kleiner Werbetrupp eines lokalen Kandidaten für die gerade stattfindende Kommunalwahl wird da zum Top-Ereignis des Tages. Der ältere Herr tingelt zwischen Bars und Minimarkt und gibt jedem Bewohner, der grade in Skala auf der Straße unterwegs ist, persönlich die Hand oder klopft ihm auf die Schulter. Ein kurzer Schwatz mit dem Papas, der mit selbst geschnitztem Wanderstock auf der schmalen Promenade stolziert, ein schneller Stopp beim Fahrradverleiher: Echte Probleme scheint der Lokalpolitiker nicht besprechen zu müssen. Die meisten Bewohner sind durch den Wandel der einst landwirtschaftlich geprägten Insel zur Touristenattraktion wohlständiger geworden. Vor allem in Skala locken kleine Fischtavernen wie „Ligo psari – Ligo thalassa“ mit frisch gegrillten Meeresspezialitäten und einem Blick über kilometerweite Meeresstraßen, die nur gelegentlich von den knallroten Schnellfähren aus Athen und Ägina durchkreuzt werden. Inseltypisch sind kleine Beigaben, wie die handverlesenen, eingelegten Kapernblätter auf den Salattellern – solche individuelle Feinheiten schätzen die Gäste dieser abgelegenen Insel, die immer noch in nur wenigen klassischen Reiseführern als Geheimtipp gelistet ist. „Hunde sind willkommen“, steht auf dem Hinweisschild am „Grenzzaun“ der Halbinsel Aponissos. Sie ist in Privatbesitz, fünf Euro Eintritt verlangen die Verwalter von Gästen, die dort mit Blick auf die kleine Felseninsel Doroussa einige Stunden im Liegestuhl verbringen wollen. Wer den Eintritt für diese „Sonderzone“ auf Agistri nicht bezahlen möchte, dreht schnell wieder um auf eine Portion Tzatziki – mit oder ohne Wein – in der einzigen Taverne der Bucht. Dort wird es abends einsam und auch gesellig.
Rot leuchtendes Inselmotiv
Vergnügte Segler aus Österreich tafeln neben wohlhabenden Athener Tagesgästen, die für ein ausgiebiges Abendessen mit ihrem pfeilschnellen, dreimotorigen Boot angelegt haben. Die Gäste dieses Abends lassen den Blick immer wieder schweifen in Richtung Westen, wo die tiefstehende Sonne die kleine Insel Doroussa in ein rot leuchtendes Scherenschnitt-Motiv verwandelt. Nach einem kleinen Stück frisch gebackenen Orangenkuchen samt obligatorischem Schluck Ouzo radeln die Nicht-Segler unter den Tavernengästen über die unbeleuchtete, kurvige Straße zurück ins Zentrum des beschaulichen Insellebens auf Agistri. Barmusik an den Swimmingpools weniger Hotels mischt sich mit dem abendlichen Brandungsrauschen von Skala. Auf Club-Atmosphäre legen nur die jüngeren unter den Agistri-Gästen wert. Der größere Teil der Besucher verschwindet bald auf ein paar Seiten Lektüre im Urlaubsroman oder Reiseführer auf die Zimmer und knipst eher zu früh als zu spät das Licht aus. Denn am nächsten Morgen geht dort, wo bei klarer Sicht auch die Skyline von Piräus oder der Küstengemeinde Alimos zu erahnen ist, wieder ebenso schön die Sonne auf, wie sie am Abend zuvor hinter der Westküste der kleinen Saronischen Insel im Meer versunken war.
(Griechenland Zeitung / Michael Lehmann)
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 895 am 25. Oktober 2023.