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Die „Filoxenia“ ist in Griechenland nicht verloren gegangen

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Die „Filoxenia“ ist in Griechenland nicht verloren gegangen

In meinen ersten Jahren in Griechenland – sie liegen schon mehr als drei Jahrzehnte zurück – gab es für mich fast nur zwei Ziele: Zwei, drei Tage Athen und dann mindestens eine Woche Kreta. Ich war hingerissen von den landschaftlichen Schönheiten dieser Insel, ich war fasziniert von der Einmaligkeit der minoischen Kunst und Kultur und – nicht zuletzt: Ich liebte die Menschen auf Kreta, ihre Herzlichkeit, ihre Freude am Leben, ihre Gastfreundschaft.

Ein Ereignis ist mir in besonderer Erinnerung: Bei einer Tageswanderung in der Nähe von Malia stand bei einem Bauernhof ein älterer Mann, ein Glas Wasser in der Hand. Er kam auf mich zu und bot auch mir Wasser an. Und er redete, er redete ohne Nachfrage. Ich verstand kein Wort, konnte praktisch kein Griechisch. Aber das schien ihn nicht sonderlich zu stören, und so begann auch ich zu erzählen. Er hörte interessiert zu. Fast eine Stunde dauerte dieses „Kommunikationsspiel“. Obwohl keiner wusste, was der andere gesagt hatte, war es mir, als ich wegging, dennoch so, als hätte ich ein Gespräch geführt.

Unglaubliches und Unglaubliche einer Insel

In den ersten Jahren ging ich von einem minoischen Palast zum anderen, von einer Ausgrabung zu nächsten, besuchte große und kleine Museen, wanderte von einer Kirche zu einer anderen. Und immer wieder war da das Meer, waren die Wogen der Ägäis oder des Libyschen Meeres, in denen ich mich aufgehoben fühlte, getragen vom azurblauen Wasser. Diese mythische Insel hat ja das Glück, dass sich gleich zwei Orte um die Ehre streiten, Geburtsstätten des Zeus zu sein bzw. den großen Olympier vor den Nachstellungen seines Vaters Kronos geschützt zu haben: eine befindet sich am großen Ida-Berg, eine andere auf der Lassithi-Hochebene.
Kurz vor Eröffnung der Olympischen Spiele in Athen 2004 war ich zum letzen Mal auf der Großinsel. Und nun, fast zehn Jahre später, ging es wieder nach Kreta. Mit meiner Frau und einem befreundeten Paar. Ich sollte führen, ein wenig jedenfalls, hin zu den großen Plätzen kretischer Kultur, minoischer Kunst. Es war mir aber etwas mulmig: Wie werde ich sie vorfinden, meine frühere Insel der Träume? Wie wird sie mir begegnen, wie sehr wird sie sich verändert haben? Werden solch tiefe Begegnungen mit den Menschen wie früher angesichts veränderter Gegebenheiten noch möglich sein? Schon nach ganz kurzer Zeit nach unserer Ankunft konnte ich aufatmen: Natürlich, vieles hatte sich verändert, kaum zum Besseren, aber alles war noch da, wie es in mir gelegen war all die Jahre. Manchmal spürte ich noch jenes Kreta, das Mikis Theodorakis in seiner Biographie „Bis er wieder tanzt“ (übrigens: Eines der schönsten Bücher überhaupt, das ich zu Griechenland kenne) so eindringlich beschrieben hat, jene Kraft dieser Insel, die so Unglaubliches und so Unglaubliche hervorgebracht hat.

Der schlichte Grabstein eines Großen

Die Hauptstadt: Heraklion mit seinem lebendigen Hafen, das um den Morosini-Brunnen sein Leben entfaltet, das italienische anmutet. Ihr Juwel: Das Archäologische Nationalmuseum mit den schier unerschöpflichen Schätzen zur minoischen Kunst. Zwar immer noch nicht im seit Jahren dauernden Neubau untergebracht, aber die schönsten Stücke werden in einem großen Raum präsentiert. Ich jedenfalls war hingerissen. Aber das war ich hier nicht das letzte Mal, ich war es immer und immer wieder in diesen zwei Wochen auf Kreta. Wenig später standen wir auf der Martinengo-Bastion der venezianischen Stadtmauer, wo Nikos Kazantzakis begraben liegt. Hier wurde 1957 der schlichte Grabstein errichtet, auf dem seine Worte stehen: „Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.“ Ein großer Dichter – und ein großer Kreter. Alle kennen wir seinen Roman „Alexis Sorbas“. Aber man vergesse andere Bücher von ihm nicht, auf Kreta besonders „Rechenschaft vor El Greco“ – Rechenschaft also vor jenem Dominikos Theotokopoulos, der im 16. Jahrhundert aus seinem kretischen Geburtsort Fodele auszog, um am spanischen Hof als einer der größten Maler Europas Furore zu machen.

Vater des minoischen Friedens

Stichwort Europa: Was wäre Europa ohne Kreta? Ein Kontinent ohne Namen! Denn hier, auf dieser gesegneten Insel, strandete Zeus, als er die phönizische Königstochter Europa in Gestalt eines weißen Stiers entführt hatte und mit ihr drei Söhne zeugte. Als bekanntesten den großen ersten König von Kreta, Minos, der von seinem Vater auf dem Ida, dem höchsten Berg, die Gesetze erhielt, nach denen er sein Volk regieren sollte. Wer würde da nicht an Moses, den Berg Sinai und die Zehn Gebote denken. Minos war ein gerechter Herrscher, er war der Vater des minoischen Friedens. Seinen Sitz hatte er unweit von Heraklion, im Palast von Knossos. Sein Stuhl aus Alabaster steht im Thronsaal von Knossos und eine Kopie davon im Internationalen Gerichtshof von Den Hag – Sinnbild dafür, dass hier gerecht geurteilt werden soll. Viele Mythen ranken sich um Knossos und Minos: Dort hauste der Minotauros, das Ungetüm aus Stierkopf und menschlichem Körper, dem im Labyrinth Jungfrauen und Jünglinge von Athen zum Fraß vorgeworfen wurden; dann kam Theseus, der den Minotauros besiegte; die Tochter von Minos, Ariadne, verliebte sich in den Helden von Athen und übergab ihm den roten Faden für das Labyrinth; Dädalos wiederum, der größte Künstler der Antike, floh mit seinem Sohn Ikaros mit selbst gemachten Flügeln von Kreta. Sein Sohn Ikaros kam dabei der Sonne zu nahe, das Wachs an den Flügeln schmolz und er stürzte bei einer Insel, die heute Ikaria heißt, ins Meer.

Vom ersten Gesetz zur Hippie-Bucht

Wir gingen zu weiteren minoischen Palästen, nach Malia, in der Nähe des Meeres im Norden, natürlich nach Phaistos, der vielleicht schönste Palast, im Süden. Hier hat man den „Diskus von Phaistos“, eines der wichtigsten Stücke aus dem Museum von Heraklion, gefunden: eine runde Scheibe, die in der minoischen Linear-A-Schrift voll beschriftet ist, die – im Gegensatz zur späteren Linear-B – bis heute nicht entziffert werden konnte. Von Phaistos aus hat man einen wunderbaren Blick auf die Messara-Ebene, eine der fruchtbarsten Regionen Kretas. Dort unten liegt anderes Glanzstück: Gortys, das zur römischen Zeit Hauptstadt der Insel war. Im Odeion von Gortys befindet sich der älteste Gesetzestext von Europa, ein in einem dorischen Dialekt gehaltener, von links nach rechts und in der nächsten Zeile von rechts nach links geschriebenes, direkt in die Mauer gehauenes Gesetz für die Stadt. Und dann, nach so viel antikem Reichtum, suchen wir in der Bucht von Matala, in deren Felsenhöhlen einst Hippies wohnten, die Erfrischung im Meer – köstlich wie das anschließend auf hohem Fels verzehrte griechische Essen.

„Ein einziges Schwelgen in Blau“

Von besonderem Reiz auf Kreta ist die auf gut 800 Metern gelegene, fruchtbare Lassithi-Hochebene, auf der sich vor Jahrzehnten noch tausende Windräder drehten, die das Wasser aus dem Boden hoben. Hier befindet sich eine mögliche Geburtshöhle von Zeus, jene von Psychro. Wenn man die Ebene in Richtung Agios Nikolaos verlässt, stößt man nicht weit nach Kritsa auf die Kirche Panagia Kera. Sie ist dem Heimgang Mariens geweiht und gehört zu den größten kirchlichen Schätzen – nicht nur auf Kreta. Der dreischiffige Kuppelbau liegt inmitten von Oliven und Zypressen und beherbergt unvergleichliche Malereien aus dem 13. Jahrhundert. Bei der Abfahrt von der Hochebene eröffnet sich ein Blick auf den Golf von Mirabello, den Erhart Kästner in seinem Buch „Kreta“ „ein einziges Schwelgen in Blau“ nannte. Recht hatte er.
Viele Völker haben seit den Minoern auf Kreta gelebt und dort nicht selten brutal geherrscht: Byzantiner, Araber, Venezianer, Osmanen und im Zweiten Weltkrieg wechselnde, auch fürchterliche Besatzungen, nicht zuletzt von Deutschen und Österreichern. Am längsten währte der Kampf gegen die Osmanen, hier wurde Griechenland wieder neu geboren. Viele Opfer haben die Kreter dafür gebracht, viel Blut ist geflossen, auch auf ihrer Seite – das hat sie stolz gemacht und frei.
Manche Besatzungsmächte haben nicht nur Leid hinterlassen. In Rethymnon beispielsweise ist allenthalben noch das italienische Erbe lebendig, und das charmante Chania (siehe Foto) kann mit dem Hafen und der Altstadt mit ihren venezianischen Holzbauten, den Arsenalen und der Promenade aufwarten. Westkreta ist anders, nicht das Minoische ist es hier, das besticht, dafür betört es mit einer unvergleichlichen Landschaft.

Wunderbare Dinge der kretischen Küche

Fragt man mich, was das Charakteristische an Kreta ist, dann würde die Antwort lauten: Die Millionen von Ölbäumen. Ein Erlebnis in einem Olivenhain bei Kolymbari versetzte mich zurück in die Vergangenheit: Wir trafen dort Michalis Lambrinakis. Er ist Partner des Österreichers Kunrich Gehrer, der seit vielen Jahren mit seiner Anna einige Monate des Jahres hier verbringt. Das gemeinsam hergestellte Qualitätsöl vermarktet er dann in Österreich. Gehrer hat sich vor Jahren ein altes kretisches Haus gekauft und mit viel Mühe und Arbeit restauriert.
Als wir ankamen, schnitt Michalis gerade die Ölbäume aus. „Oliven brauchen Platz, Licht und Sonne, wenn die Qualität stimmen soll.“ Michalis hat Basketball-Format, er ist fast zwei Meter groß erreicht die Zweige ohne Leiter. Nach getaner Arbeit lädt er uns zu sich nach Hause in die Nachbargemeinde Kalidonia ein. Seine Frau Toula und zwei ihrer Schwestern bereiten in der Küche wunderbare Dinge zu: Verschiedene Teigtäschchen, Kaltsounia, gibt es, süße und solche nach Art von Chania; dann Liasti tomata, kleine, sonnengetrocknete Tomaten. Oder Sikopitarides, leicht getrocknete Feigen, und nicht zuletzt Achladi glyko me amigdalo, gesüßte Birnen mit Mandeln. Wir sitzen mit Michalis auf seinem Balkon und geben uns diesen wunderbaren Häppchen hin. Und Michalis erzählt. Er war hier viele Jahre Bürgermeister der PASOK. Eine Straße taufte er auf Odos Irinis Olouf Palme, Freiheitsstraße Olof Palme. Gemeint ist der ehemalige sozialistische Ministerpräsident von Schweden, der einem Attentat zum Opfer gefallen ist. Palme war oft auf Kreta, er hat immer in Stalis, an der Nordküste, gewohnt. Und am Abend fuhr er gerne Richtung Lassithi, nach Mochos, einem heute noch ursprünglichen Ort mit wunderbarer Platia, die von Tavernen umkreist ist. In manchen davon hängen noch Fotos von Olof Palme.
„Freiheit oder Tod“ nannte Nikos Kazantzakis einen seiner Romane. Und irgendwie spürt man dieses Kämpferische noch immer – beispielsweise beim einfachen Olivenbauer Michalis Lambrinakis in Kalidonia, der uns wieder einmal gezeigt hat, was kretische Gastfreundschaft (Filoxenia) ist. Denn die ist trotz schwieriger Geschichte, viel Unterdrückung und neuen Schwierigkeiten nicht verloren gegangen. Zum Glück nicht. Zu unserem Glück.

Walter Fink

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